Sie ist eine klingende Ikone: die „Promenade“ aus Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Man kennt sie in der Klavierfassung oder im prächtigen Blechbläsergewand bei Ravel oder, weicher gepolstert, mit Holzbläsern und Streichern bei Tushmalov. In der Propsteikirche in der Dortmunder City gehört die Melodie einer Klarinette, zu der sich dezente Trommelklänge und Vibraphonglissandi gesellen.
Auch die „Hütte der Baba Yaga“, das „Ballett der Küken in ihren Eierschalen“ und das „Große Tor von Kiew“ kommen in reizvollen und farbigen Arrangements daher, das Orchester erweitert sich um Streicher, Bläser, Glockenspiel, Marimbaphon, Harfen, Röhrenglocken und verschiedene Trommeln. Die Instrumentierung bezieht gezielt Schlagwerk, Stabspiele und Percussionsinstrumente mit ein und ist speziell auf die Bedingungen des „Esagramma Symphony Orchestra“ aus Mailand abgestimmt. Etwa 15 professionelle Musiker und 20 Menschen mit Behinderungen spielen darin zusammen.
Unter Leitung von Licia Sbattella erklingen an diesem Abend noch das Adagio aus Dvoráks neunter Sinfonie und Sätze aus Griegs „Peer-Gynt-Suite“. Immer wieder überrascht die unkonventionelle Besetzung mit pittoresken Farbkombinationen. Die Musiker sind hochkonzentriert bei der Sache und imponieren mit kompetentem, präzisem und stimmigem Spiel. Grundlage dafür ist die „Orchestral Music Therapy“, die am Esagramma-Institut in Mailand entwickelt wurde.
Es ist das erste Abendkonzert des viertägigen Kongresses „Europa InTakt“ an der TU Dortmund, ein offizielles Projekt der „Kulturhauptstadt Europa.Ruhr.2010“. Die Propsteikirche ist gut gefüllt, neben dem „esagramma“ treten auf: der „Hausmusikkreis Linde“ aus Lemgo, die Cellistin Katharina Reichelt aus Saarbrücken, und die Musikgruppe „Nachtigall“ aus Budapest. Zum Auftakt des Konzerts spricht Irmgard Merkt über Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Musik- und Kulturleben. Teilhabe in ihrem Verständnis meint nicht gönnerhafte Einrichtung von Sonderzonen, Sonderveranstaltungen, Spezialkonzerten, Nischenaufführungen. All das können nur Zwischenschritte sein. Langfristig gehören Konzerte von Menschen mit Behinderungen nach ihrer Ansicht ins offizielle Konzertleben. Irmgard Merkt ist Inhaberin des Lehrstuhls Musikerziehung und Musiktherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Seit 2003 organisiert sie, zusammen mit dem Zentrum für Weiterbildung, den Kongress „Europa InTakt“. Bei Musik „sind alle Menschen InTakt“, lautet ihre griffige Formel für die Überzeugung, dass gemeinsames Musizieren ein ausgezeichnetes Mittel zur Integration von Menschen mit Behinderung, zur Förderung ihrer Kompetenzen und Steigerung ihres Selbstwertgefühls ist.
Sechzehn Workshops vermitteln dafür praktische Grundlagen, das Themenspektrum reicht von Body-Percussion, Tai Chi und Community Rhythm Circle über Tanz, Klang und Stille, stimmlichen Übungen bis zu Stockkampf und Steel-Pan-Drumming. „Diese Workshops sollen für Menschen mit und ohne Behinderung spannend sein. Eigentlich brauchen wir keine eigene Behinderten-Musikpädagogik. Wir brauchen nur eine gute Musikpädagogik. Wir brauchen auch keine Sonderpädagogik, sondern eine besonders gute Pädagogik“, so Irmgard Merkt. In jedem dieser Workshops erkunden Menschen mit und ohne Behinderungen „ihr“ Thema und bereiten einen Beitrag für die Abschlusspräsentation vor.
„Panama, Panama, Cuba“, spricht Matthias Philipzen den Klassiker unter den ungeraden Metren vor: zwei Dreier, ein Zweier. „Panama, Panama, Cuba“ echot der Chor der Teilnehmer zurück. Parallel dazu traktieren sie mit flachen Händen das „Cajon“, eine Holzkiste mit Resonanzloch, die nicht nur knackig klingt, sondern auch als bequemes Sitzmöbel dient. Nicht allen gelingt die Aufgabe, was aber dem Spaß an der Sache keinen Abbruch tut. „Das kann man für Jazz oder Rock brauchen“, meint Ralf. Er nimmt mit anderen aus einer Wohngruppe der Dortmunder Lebenshilfe an dem Workshop teil. Oliver Horst, Heilerziehungspfleger und Betreuer der Gruppe, bestätigt die positiven Effekte des Musizierens für Menschen mit Behinderungen: „Die Einschränkungen, die sie etwa beim sprachlichen Ausdruck haben, werden durch das Musikmachen ausgeglichen.“
Sechzehn Workshops – sechzehn unterschiedliche Ansätze für Kulturarbeit mit Menschen mit Behinderungen. Es gibt keinen musikalischen Stil, der besser geeignet wäre als andere, so das Credo von Irmgard Merkt. Ob HipHop oder Klassik, Body-Percussion oder das Spiel auf Alltagsgegenständen. Wie im Workshop von Olaf Pyras. Der zeigt, wie ein Weinglas klingt. Ein zartes Summen ertönt, wenn man den feuchten Finger auf dem Rand reibt, ein lustiges Glucksen, wenn es in ein Wasserbecken getaucht wird und mit einem kleinen Holzschlegel angeschlagen wird. Großen Eindruck macht ein Schwirrholz, das die Luft mit einem intensiven Brummen erfüllt, als wäre eine Riesenlibelle im Anflug. Noch eins drauf setzt Heinz Schiefer. Sein „Orchester“ besteht aus Mülltonnen, Heizungsrohren, Besen, Papiertüten oder Eierschneidern. Ganz auf die Stimme setzt Beate Theißen in ihrem Workshop. Bald schon singt ein Teil der Runde das kenianische Lied „Si mama ka“, rhythmisch befeuert von den Männerstimmen, die ein Beatbox-Pattern darunter legen. Als Teilnehmerin ist Angelika Ruckdeschel dabei, die eine Musikschule in Duisburg betreibt. Sie verspricht sich Anregungen für die eigene Arbeit, denn „manchmal meldet sich bei mir auch ein Kind mit einer Behinderung an“.
Robert Wagner von der Musikschule in Fürth demonstriert andernorts sein Konzept „Max gemeinsam“. Aus elementaren rhythmischen und melodischen Bausteinen entstehen nach kurzer Zeit kleine musikalische Gebilde. Das Ensemble setzt sich aus Xylophon, Blockflöte, Horn, Gitarre, Zither und Keyboard zusammen, kundige Spieler sorgen dabei für eine gewisse Sicherheit, die die übrigen mitzieht.
Die Welt der Elektronik samt Loops, Sampling-Effekten und groovigen Basslines führen Claudia Schmidt und Christian Fleck in ihrem Workshop vor, während Alain Goudard mit seinen Teilnehmern das Reich der freien Improvisation erkundet. Die Instrumentenliste reicht von der Bassklarinette bis zum Hufeisen, von der Flöte bis zur Handkaffeemühle. Faszinierend, wie Goudard das assoziativ sich weiterspinnende Geschehen sanft dirigierend mitgestaltet und dabei sogar Lautäußerungen behinderter Teilnehmer mit einbezieht.
Kein „Behindertenbonus“, das wünscht sich Irmgard Merkt, und mit ihr viele, die in der Kulturarbeit für Menschen mit Behinderungen tätig sind. Die Konzerte beim Kongress sollen zeigen, „was Menschen können, nicht, was sie nicht können“. Wie etwa die Auftritte der Band „Light“ aus Litauen, dem Projekt „KeKeCa“ aus dem türkischen Eskisehir, von „Les Percussions de Treffort“, „Spirit Steps“ aus Mühlheim, „Rendez-vous des Tambours“ aus Essen oder der Jacob-Jensen-Band aus Aarhus belegten. Oder Katharina Reichelt. Die zwanzig Jahre junge Cellistin mit Down-Syndrom aus Saarbrücken präsentiert in der Propsteikirche Charpentiers „Te Deum“-Thema und flotte „Latin nights“ – unbekümmert, sicher, mit merklicher Spielfreude, ganz wie jeder andere, der auf einige Fortschritte auf seinem Instrument stolz sein kann. Oder der „Hausmusikkreis Linde“ aus Lemgo. Suiten und Lieder aus der Renaissance liegen bei dem Ensemble auf den Notenpulten. Die Instrumentenliste verzeichnet Blockflöten in großer Zahl, vier Psalterien, Klangröhren und sogar ein Trumscheit, auch „Nonnentrompete“ genannt. Manche der Instrumente, erklärt Ensembleleiter Horst Kortemeier, habe er eigens für Menschen mit Behinderungen gebaut. Je nach Armbeweglichkeit und Griffvermögen ergeben sich unterschiedliche Tonumfänge. Die Methodik, hier der Instrumentenbau, passt sich also den Menschen an, nicht umgekehrt. Musikpädagogik für Menschen mit Behinderungen müsse flexibel sein, fordert denn auch Irmgard Merkt. Zum Beispiel gebe es Menschen, die nicht lesen können: „Da macht auch das Notenlesen keinen Sinn. Das Unterrichten funktioniert dann über Zeigen, über das Vor- und Nachmachen, über die Arbeit mit Symbolen oder Farben. Man erfindet eine andere Systematik.“ Ziel ist letztlich, eine Pädagogik für jedes Individuum zu kreieren – ein Prozess, von dem auch die Arbeit mit Nicht-Behinderten profitiert.
Applaus für die gute Arbeit, nicht für die gute Absicht – das soll am Ende einer erfolgreichen integrativen Kulturarbeit stehen. Dazu gehört auch, dass Diskussionen über die Qualität der Darbietungen nicht länger tabu sind. Ein dreitägiger Kongress lotete diesen Themenkomplex aus. Verschiedene Initiatoren integrativer Projekte (unter anderem Alain Goudard, Gründer von „Les Percussions de treffort“, Christoph Grothaus, künstlerischer Leiter von „palaixbrut“, oder Brian Laurie, Leiter der Gruppe „popcorn“ aus Aarhus) stellten dabei ihre Arbeit vor.
Ein letztes Mal zurück in die Propsteikirche. Dass sich Qualität und integrative Kulturarbeit keineswegs ausschließen, beweist an diesem Abend die Musikgruppe „Nachtigall“ aus Budapest. Auf der Grundlage der Kodály-Methode hat der elfköpfige Chor ungarische Volkslieder (und auch ein türkisches) einstudiert. Unterstützt von einer Profi-Band, entführen die Sänger und Sängerinnen das Publikum ins dörfliche Leben, wo Mädchen und Burschen sich necken, Trommelschläge vom Soldatenleben künden oder eine Hochzeit gefeiert wird. Der Auftritt gerät temperamentvoll und mitreißend, in einem Kinderlied bellt sogar ein Hund. Und nach Leonard Cohens „Halleluja“ hält es die Zuhörer nicht mehr auf den Sitzen.