Er ist erst seit eineinhalb Jahren auf diesem Posten, aber in Wirklichkeit ist er ein alter Hase in diesem Metier: Hans Reinhard Biere, im Hauptberuf Geiger im WDR Sinfonieorchester, engagiert sich seit vielen Jahren in der Deutschen Orchestervereinigung (DOV). Seit Mai 2015 ist er 1. Vorsitzender des Gesamtvorstands der DOV. Ein harter Knochen und waschechter Gewerkschafter also? Susanne Fließ sprach mit Hans Reinhard Biere über den Spagat zwischen Arbeitskampf und der Liebe eines Musikers zu seinem Beruf.
neue musikzeitung: Herr Biere, was veranlasste Sie, den Musentempel zu verlassen und auf die Barrikaden zu gehen, genauer gesagt, den Vorstandsposten in der Deutschen Orchestervereinigung zu übernehmen?
Hans Reinhard Biere: Salopp gesagt, bin ich da so reingeraten. Als ich 1985 die Stelle in der 1. Geige im WDR Sinfonieorchester bekommen hatte, wurde ich unmittelbar darauf Mitglied in der DOV. Auslöser war ein ausgesprochen umtriebiger Delegierter, der mir einen Antrag auf Mitgliedschaft vor die Nase hielt. Ich habe ihn bei seiner Arbeit für die DOV beobachtet und war sehr fasziniert von der Art und Weise, wie er Sachverhalte und Zusammenhänge ruhig und verständlich erklärte. Wünsche des Orchesters leitete er an die DOV weiter, er wusste tarifpolitisch beeindruckend gut Bescheid und führte im WDR die Verhandlungen im Namen des Orchesters. Mit meiner Aufnahme in die DOV hielt ich mein Engagement zunächst für erledigt, im Orchester lief alles rund, so weit, so gut. Ich konnte mich auf die Musik konzentrieren. 2006 tauchte plötzlich das Thema Planstellenabbau auf, was die Arbeitsbedingungen in meinem Orchester negativ zu verändern drohte. Der Delegierte hatte sein Amt nach langjähriger Tätigkeit inzwischen niedergelegt. Weil mich seine Art des gewerkschaftlichen Engagements einerseits fasziniert hatte und nun eine Neuwahl anstand, meldete ich Interesse an und wurde 2007 zum DOV-Delegierten des Orchesters gewählt.
nmz: Ein Sprung ins kalte Wasser …
Biere: Allerdings, auch weil es eine spannende Sache war, gleich als Neueinsteiger solche wichtigen Verhandlungen zu führen. Bei der Gelegenheit lernte ich den Geschäftsführer der DOV Gerald Mertens kennen und schätzen und führte gemeinsam mit ihm die Verhandlungen zu einem guten Ende.
nmz: Dieser erste Erfolg war Ihnen Ansporn, Ihr Engagement in der DOV fortzusetzen?
Biere: Die Sache nahm dann Fahrt auf: Kurze Zeit später fuhr ich zu meiner ersten Delegiertenversammlung, lernte dort die Delegierten aus anderen Orchestern kennen und stellte fest, dass es eine Rundfunk-Kommission gab, in die man sich wählen lassen konnte. Gesagt, getan, ab 2009 gehörte ich auch diesem Gremium an. Nach meiner Wiederwahl drei Jahre später fragte man mich, ob ich nicht den Vorsitz übernehmen wollte, was ich dann tat.
nmz: In diesem Bereich gibt es offenbar ein reiches Betätigungsfeld für engagierte Musiker.
Biere: Ja, aber ich möchte betonen, dass ich nie mit dem Ziel der DOV beigetreten bin, eines Tages der Vorsitzende dieser Organisation zu werden. Ich wollte mich einbringen, das ja, speziell ab 2007, weil ich mein Orchester in bedrohlicher Lage unterstützen wollte. Vor dem Amt des Vorsitzenden hatte ich aber gehörigen Respekt. Als mich dann Kollegen aus dem Gesamtvorstand fragten, ob ich mir nicht vorstellen könnte, für den 1.Vorsitzenden zu kandidieren, musste ich mich erstmal mit meiner Frau beraten. Als die mir zuriet, nahm ich im Mai 2015 nach der Wahl das Amt des Vorsitzenden des Gesamtvorstands an.
In der Doppelrolle
nmz: Fühlen Sie sich denn jetzt als Gewerkschafter?
Biere: Die DOV repräsentiere ich tatsächlich in einer Doppelrolle: Einerseits bin ich Vertreter einer Spartengewerkschaft, mit einem beneidenswerten Organisationssgrad übrigens. Über 90 Prozent aller Orchestermusiker in Deutschland sind in der DOV. Andererseits bin ich Vorsitzender eines Berufsverbandes, der vernetzt ist mit anderen Verbänden, die sich um die Musikkultur kümmern, die dafür sorgen, dass junge Leute sich für klassische Musik interessieren können. Beispiele wären das „Netzwerk Junge Ohren“ oder der Bundesverband Musikunterricht. Ich sehe das so: Als Vorsitzender eines Berufsverbandes namens DOV arbeitet man nicht konfrontativ, sondern kooperativ.
nmz: Welche Macht hat diese Organisation, wenn es um die Durchsetzung von Rechten, Arbeitsbedingungen oder Tariflöhnen geht?
Biere: Was unseren Organisationsgrad und den kurzen Draht zur Basis angeht, habe ich keine Sorge. Auch, was die Vernetzung mit der Politik betrifft. Ich sehe Schwierigkeiten eher in der Lebenssituation eines Berufsmusikers: Wir lieben unseren Beruf sehr. Also hat niemand von uns leichtfertig Interesse daran, ein Konzert zu bestreiken, denn dann brächten wir uns ja genau darum, was uns seit Kindesbeinen so große Freude macht. Und wir beziehen in unser abwägendes Handeln auch unser Publikum ein. Wir wollen die Zuhörer ja erfreuen und nicht verärgern. Wenn ich also als Gewerkschafter dazu aufrufe, ein Konzert ausfallen oder später beginnen zu lassen, also ein Streik nötig ist, ist das das letzte Mittel, die höchste Eskalationsstufe und eine persönlich schwere Situation für uns.
nmz: Erinnern Sie sich an Situationen, in denen Ihre Überzeugungsarbeit nichts nützte?
Biere: Einmal waren wir nicht erfolgreich. Das war im Zusammenhang mit der Fusion der beiden SWR-Sinfonieorchester. Die Angelegenheit ist mir sehr nahe gegangen und bis heute kann ich nicht einsehen, weshalb das sein musste. Das waren zwei glänzend aufgestellte, profilierte Orchester. Die Fusion war rein politischer Natur, finanzielle Gründe waren sicher zweitrangig. Man wollte auf Biegen und Brechen die Zusammenlegung zweier Rundfunkanstalten vollenden, indem man auch die Klangkörper zusammenlegte. Musiker kann man aber nicht einfach zusammenlegen wie zwei Filialen im Einzelhandel. Diesen Kampf hätte ich gerne gewonnen.
nmz: Bei solchen Fusionen wird ja auch immer gerne das Argument der Kostenersparnis bemüht.
Biere: Wenn ich mir die aktuelle positive Entwicklung an der Börse ansehe, die gestiegenen Steuereinnahmen bei Bund und Ländern, dann muss ich vermuten, dass es Deutschland gut geht. Umso unverständlicher ist es mir, dass es immer noch Orchester gibt, die untertariflich bezahlt werden, insbesondere im Osten.
nmz: Hört man nicht allenthalben die Klage, dass die Abonnenten- und Besucherzahlen rapide abnehmen?
Biere: Ich spiele 1. Violine im WDR Sinfonieorchester, so dass ich von meiner Position aus sehr gut das Publikum betrachten kann. Zum einen sehe ich in der Kölner Philharmonie jede Menge junger Leute. Das neue Format „Happy Hour-Konzert“, das unser Orchester anbietet, findet am frühen Abend statt, wird ansprechend moderiert und dauert nur eine Stunde. Es zieht massenhaft neue Zuhörer an. Zum anderen ist das Argument, das Konzertpublikum werde immer älter und sterbe aus, weshalb man sich Investitionen sparen könne, ein Mythos. In der FAZ las ich neulich, dass es im 19. Jahrhundert etwa 300.000 „Bildungsbürger“ gab, das entsprach einem Anteil von 0,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Heute besuchen rund 5,2 Millionen Menschen im Jahr klassische Konzerte. Die Quote hat sich also versechzehnfacht. Die Menschen schätzen uns offensichtlich, wir haben ein gutes, markttaugliches Produkt. Mein Eindruck ist eher, dass diese Tatsachen die so genannten Entscheidungsträger noch nicht erreicht haben. Vielleicht hat aber auch das heutige Bildungsbürgertum an Einfluss verloren.
nmz: Musik auf hohem Niveau zu machen, das Publikum damit in seinen Bann ziehen und gleichzeitig für gerechte Arbeitsbedingungen in einem Künstlerberuf zu sorgen, das klingt nach einem ziemlichen Spagat.
Biere: Ja, da stimme ich Ihnen zu. Neulich las ich eine Anzeige in einem Onlineportal für Musikerstellen die Überschrift: „Der will nur spielen“. Das hat mich richtig wütend gemacht, denn der Beruf des Musikers ist anstrengend. Wir arbeiten ständig unter öffentlicher Beobachtung und erbringen Höchstleistungen. Obwohl wir etwas präsentieren, was wir schon in unserer Kindheit trainiert haben, empfinden wir jede Probe, jedes Konzert als Herausforderung. Wir stellen uns ihr gerne. Wir laden Menschen zu uns ein, die uns bei der Neuentstehung eines Werks zuhören wollen. Bei all unserem Tun ist sehr viel Liebe im Spiel, sonst könnten wir diesen Beruf gar nicht ausüben. Aber die Liebe birgt auch die Gefahr, uns selbst ausbeuten zu lassen.
Ehrenamt und Engagement
nmz: Wie viel Zeit nimmt denn Ihre ehrenamtliche Tätigkeit in Anspruch?
Biere: Ich muss zugeben, dass das mehr Zeitaufwand ist, als ich anfangs dachte. Mein Tag beginnt um sieben Uhr mit Presseberichten und dem Beantworten von Mails. Um neun Uhr mache ich mich auf zum Dienst. Wenn ich wieder nach Hause komme, ist der Posteingangsordner schon wieder voll. Pro Tag bin ich drei bis vier Stunden mit ehrenamtlicher Tätigkeit beschäftigt. Hinzu kommen die Reisen zu den Orchester-Standorten oder zu Sitzungen der Kommissionen.
nmz: Sie sind im Sommer Mitglied des Festspielorchesters in Bayreuth. Wird dieses Projekt-Orchester denn auch von der DOV vertreten?
Biere: In Bayreuth treffen sich die echten Wagnerfans. Sie kommen aus ihren jeweiligen Orchestern und sind in den allermeisten Fällen Mitglieder der DOV. Auch der Tarifvertrag, dem das Festspielorchester unterliegt, ist mit Unterstützung der DOV ausgehandelt. In einem luftleeren Raum befinden wir uns dort also nicht.
nmz: Gelegentlich hört man den Vorwurf, dass bestimmte experimentelle Formate oder Konzerte an ausgefallenen Orten mit gewerkschaftlich organisierten Orchestern nicht zu bewerkstelligen seien, weil die stur auf ihren Pausen beharrten und den Probenplan damit torpedierten.
Biere: Die Tarifverträge lassen nach meiner Kenntnis schon sehr viel zu, für meinen Geschmack beinahe zu viel. Da gibt es beispielsweise in meinem Orchester einen Passus, der es gestattet, bis zu 15 mal im Jahr 7 Stunden durchgehend zu proben. Aber nach 4 Stunden intensiver Probenarbeit, zum Beispiel für eine CD-Aufnahme, sind wir Musiker und auch die meisten Dirigenten körperlich und mental erschöpft. Emotionen spielen ja beim Musizieren eine große Rolle. Insofern ist die Idee, einfach mal 7 Stunden zu proben, um Zeit zu sparen, rein rechnerisch nachvollziehbar, praktisch führt sie aber zu nichts.
nmz: Erfahren Sie denn, wenn Dienste weit über ein gesundes Maß hinaus ausgedehnt werden?
Biere: In der DOV finden alle drei Jahre die Delegiertenversammlungen statt, auf denen wir uns über die aktuellen Themen austauschen und Neuwahlen durchführen. Dort kommen auch die Anträge aus den Standorten. Weiterhin haben wir auch einmal im Jahr Regionaltagungen, innerhalb derer wir für jeden Klangkörper Gesprächszeit veranschlagen. Trotzdem fände ich es besser, wenn die Rückmeldung aus den einzelnen Standorten noch häufiger wäre, so dass ich frühzeitig erfahre, wo wir handeln müssen, nicht erst dann, wenn es schon brennt. Ich erinnere mich beispielsweise an die Zeit, als in Thüringen mit einer großen Strukturreform erhebliche Einschnitte in der Orchesterlandschaft geplant waren. Damals fuhr ich zur Thüringer Orchesterkonferenz mit dem Zug über Gotha, Eisenach und Erfurt und spürte in mir den heftigen Impuls auszusteigen, bei jedem der betroffenen Orchester eine Probe mitzumachen und ein ausführliches Gespräch über ihre aktuelle Situation anzuschließen. Das hätte allerdings so viel Zeit in Anspruch genommen, dass ich meine Stelle im WDR-Sinfonieorchester hätte quittieren müssen …
nmz: Welche Voraussetzungen muss man denn für das Amt des Vorsitzenden mitbringen?
Biere: In der Satzung der DOV ist festgehalten, dass die Mitglieder des Gesamtvorstands, demnach auch der Vorsitzende, aktive Musiker sein müssen. Das ist nicht nur für das Verständnis des Berufsbildes Musiker wichtig, es ist auch wichtig für die kurzen Wege zu unserer Zielgruppe. Oft starte ich nach der Rückkehr von Sitzungen unter meinen Orchesterkollegen spontane Diskussionen zu bestimmten Vorschlägen, die tags zuvor in den Gremien entwickelt worden sind. So kann ich mir sehr schnell ein erstes Stimmungsbild an der Basis verschaffen. In Bayreuth ist das übrigens noch wirkungsvoller, denn dort kann ich mich mit Kollegen vieler deutscher Orchester austauschen.
Was die Zukunft bringt
nmz: Welche Themen haben Sie sich gesetzt?
Biere: Wie bereits erwähnt, möchte ich näher an die Standorte ran. Bei den letzten Regionaltagungen haben wir in Workshops die Zusammenarbeit von Ehrenamtlern vor Ort besprochen. Wenn das gut läuft, sind wir effektiver. Weiterhin möchte ich die Qualität der Education-Aktivitäten vor Ort verbessern. Das Know-how des „Netzwerk Junge Ohren“ sollte von möglichst vielen Chören und Orchestern genutzt werden. Auch die Erwachsenenbildung möchte ich verstärken. Also das, was wir Jugendlichen vermitteln, auch Erwachsenen anbieten. In Köln tragen die Aktivitäten des WDR bereits erste Früchte. Das auf das gesamte Bundesgebiet auszudehen, halte ich für sehr erfolgversprechend.
nmz: Und wenn rundherum für Gerechtigkeit gesorgt ist, hat sich die Arbeit in der DOV dann erledigt?
Biere: Diese Arbeit endet nie, weil gesellschaftliche und politische Entwicklungen immer wieder Veränderungen bringen werden. Daher sehe ich als Musiker die Mitgliedschaft in einer Organisation wie der DOV als alternativlos. Es ist undenkbar, dass jeder einzelne Musiker separat seine Arbeitsbedingungen aushandelt. Hier braucht es Fachleute mit juristischem Sachverstand, um bestmögliche Rahmenbedingen zu erreichen. Wenn wir also als Berufsverband unsere Arbeit gut machen, dann können sich die Kolleginnen und Kollegen in den Orchestern vertrauensvoll dem widmen, was sie am liebsten machen: das Publikum mit schöner Musik beglücken.