Kultur, Standort, Bestimmung, so die drei titelgebenden Begriffe eines Projekts, welches unter dem Slogan „Leipzig, wir müssen reden!“ Ende September eine ganze Stadt zum Diskurs aufforderte.
Eine Stadt, die dieses Jahr ihr 1.000-jähriges Jubiläum feiert und unter der Überschrift „Wir sind die Stadt“ großflächig einlädt zur Identifikation. Eine Einladung, der viele nachkommen, betrachtet man steigende Einwohnerzahlen und den Status Quo in Sachen Image. Das Hipness-Barometer in die Höhe schnellen lassen jedoch nicht allein vergleichsweise günstiger Wohnraum oder geflutete Tagebaulöcher. Ein, wenn nicht gar der entscheidende Faktor für Leipzigs Attraktivität ist zweifelsohne das besondere Klima der Stadt, angetrieben von dem starken Doppel Kunst und Kultur in herausragender Qualität und Vielfalt. Verantwortlich dafür zeichnet sich zu großen Teilen Leipzigs Freie Szene. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass hierfür vom städtischen Kulturetat nicht einmal 5 Prozent zur Verfügung stehen. Dass Qualität ihren Preis hat, ist allseits bekannt. Kunst und Kultur hingegen haben im allgemeinen Sprachgebrauch gern einen Wert, der ganz ohne Preis auskommen muss.
Freilich kann man diesen Zustand mit der Feststellung quittieren, der freien Kunst ihr Prekariat, der Stadt ihre Oper. Oder aber, wie im hier vorliegenden Fall, man nimmt die Stadt beim Wort und bittet sie zum Gespräch. Angestoßen von der Initiative Leipzig + Kultur fand so vom 21. bis 27. September ein spartenübergreifender kulturpolitischer Kongress statt, der nichts Geringeres als das Formulieren konkreter Handlungsempfehlungen für Kultur, Politik und Verwaltung zum Ziel hatte und in Deutschland bisher einmalig ist. Die Anstrengungen um einen Dialog sind für Macher von kultur | standort.bestimmung dabei nicht neu. Bereits 1999 als Interessenvertretung der Freien Kulturszene Leipzigs ins Leben gerufen und 2014 als gemeinnütziger Verein konstituiert, haben Forderungen nach besseren Produktions- sowie Präsentationsbedingungen und das Bestreben nach einer breiten öffentlichen als auch politischen Wahrnehmung freier Kulturarbeit eine Plattform, die Zeit ihres Bestehens um Sichtbarkeit kämpft. Flankiert von einem Festivalprogramm, welches in über 60 stadtweiten Veranstaltungen von klassischen Formaten wie Konzert und Lesung bis hin zu performativen Stadtführungen die Diversität der ansässigen Szene eindrucksvoll demonstrierte – und auch ohne einen Kongress zum Anlass Woche für Woche stattfindet – steckten die Oberbegriffe Freiräume, Partizipation, Kooperationen und Kompetenzen das theoretische Feld für sieben Tage kultur | standort.bestimmung ab. Den unbedingten Willen zur Praxis verdeutlichte schon die feierliche Eröffnung in der Galerie für Zeitgenössische Kunst.
Den Grußworten hochrangiger Stimmen stand eine Performance der Tänzerin Alma Toaspern und des Musikers Peter Bauer gegenüber, die bereits zum Auftakt mit spielerischem Ernst die Kernthemen des Kongresses und deren unmittelbaren Zusammenhang offenlegte. Wenn sich Toaspern in einem durch den gesamten Raum gespannten Netz verflicht und ihr Bauer vermittels eines Instrumentariums von Maultrommel bis Staubsauger klangvoll den Weg weist, ehe beide vollends verstrippt gemeinsam zur Ruhe finden, wird sichtbar, was ein erfolgreicher Dialog zwischen den Parteien Kunst und Politik im besten Falle erreicht: Ein Netzwerk, welches den einzelnen trägt. Kein schlechter Start also, um beide Seiten zusammenzuführen, und kein Zufall, dass Oliver Scheytt zwei Tage später in seinem Eröffnungsvortrag zu insgesamt acht Podien seine einleitende Frage, ob es sich hier um „die Standortbestimmung durch Kultur, der Kultur oder in der Kultur“ handele, mit der Überleitung zum Begriff der Orientierung beantwortete. Der Kulturpolitik wohne, so Scheytt, die Funktion inne, dem einzelnen Orientierung und damit die Möglichkeit zu geben, sich zu positionieren. Auf aktive Mitgestaltung für alle Interessierten ausgelegte Projekt- und Arbeitsformen sind eines der markantesten Merkmale der Freien Szene und machen sie zu einem bedeutenden Faktor für zivilgesellschaftliche Prozesse in einer demokratischen Stadtgesellschaft. Für genau diese Mitbestimmung und Willensbildung des Einzelnen, für Orientierung folglich und Positionierung, braucht es Transparenz von beiden Seiten.
Einen Dialog, in dem ein inflationär gebrauchter „Möglichkeitsraum“ tatsächlich Möglichkeiten schafft und eine überstrapazierte „Partizipation“ das Gefälle von Bittsteller und Fördermittelgeber überwindet. Klar ist – die Realität freier Kunst- und Kulturschaffender bildet sich nicht etwa im freien Schaffen ab, sondern vielmals im Stellen von Anträgen, die in ihren Anforderungen und Kriterien an Auftragskunst erinnern. Was fehlt, ist geteiltes Wissen, das Zusammenlegen von Kompetenzen und daraus resultierendes gegenseitiges Vertrauen. Kurzum – das Finden einer gemeinsamen Sprache. Dieser Herausforderung stellten sich die Initiatoren von kultur | standort.bestimmung mit einem souveränen Vorgehen in drei Phasen. In offenen Foren wurden zunächst Ideen, Fragen und Meinungen gesammelt, deren Ergebnisse den anschließenden Expertenpanels als Input dienten. So lud man beispielsweise im Polnischen Institut, einem der zahlreichen Partner von kultur | standort.bestimmung, zu Live-Interviews via Skype mit ehemals in Leipzig verorteten Kulturschaffenden, die von verschiedenen europäischen Städten aus Leben und Arbeiten in Leipzig reflektierten – und dabei nicht an Lob, etwa für die lokale Jazz-Szene, sparten. Gleichsam international ging es an den Folgetagen innerhalb der Podien zu.
Angereist aus Frankreich, England, Polen, der Slowakei, Tschechien und Lettland sowie aus ganz Deutschland referierten und diskutierten Expertinnen und Experten zwei Tage lang die gesamtgesellschaftliche Wirkung und Bedeutung von Kultur, verständigten sich über nötige Rahmenbedingungen und stellten gelungene Praxisbeispiele vor, in denen politische Entscheidungsträger die Einbeziehung von Künstlerinnen und Künstlern bewusst fördern und als Bereicherung ansehen. Der mehrfache Ruf nach einer Änderung vom Top-down-Prinzip zur Mitbestimmung wurde auch aus der Sparte Musik laut, der mit zeitgenössischer, klassischer und populärer Ausprägung zwar eine auffallende Inhomogenität innewohnt, in der man sich jedoch darüber einig ist, dass es einer neuen Offenheit der großen Institutionen gegenüber den freien Musikerinnen und Musikern als Nährboden für Entwicklung bedarf. Richtungsweisende Ideen für diese und weitere Entwicklungen der Leipziger Kulturlandschaft wurden anschließend innerhalb ganztägiger Workshops zu den vier auf den Podien verhandelten Themen „Handlungs.Spiel.Räume“, „Teilen & Haben“, „Auseinandersetzen-Zusammensetzen“ sowie „Kultur bildet!“ zusammengetragen und als praktikable Handlungsempfehlungen formuliert.
Die Ergebnisse, welche sämtlich auf eine professionelle Vernetzung sowie auf den Transfer von Wissen und Kompetenzen im Dreieck Freie Szene, Kulturpolitik und -verwaltung zielen, werden derzeit als öffentliche Publikation ausgearbeitet. Auf Einladung von Michael Faber, Bürgermeister und Beigeordneter für Kultur der Stadt Leipzig, wurde seitens Leipzig + Kultur im Rahmen eines jährlich stattfindenden Kulturforums bereits unmittelbar nach dem Kongress ein erster Ausblick darauf vorgestellt. Gespannt, wie sich die neuen Impulse in der zukünftigen Kulturarbeit Leipzigs niederschlagen, darf man eines schon jetzt mit Gewissheit sagen: Leipzig, wir bleiben im Gespräch!