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Kommentar

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Zentrum gegen Vertreibungen
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Dass die tiefen Wunden der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts noch längst nicht verheilt sind, wird bei der Debatte um die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen” deutlich. Zwischen 50 und 70 Millionen Menschen wurden alleine in Europa im letzten Jahrhundert auf Grund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität oder ihrer Religion vertrieben oder zur Auswanderung gezwungen. In Deutschland, West wie Ost, waren die Vertreibungen lange Zeit ein Tabuthema. Erst in den letzten Jahren nach der Wiedervereinigung wurde über die Vertreibung öffentlich diskutiert und kamen die Vertriebenen erneut selbst zu Wort.

Doch noch immer schwingt bei der Diskussion das Misstrauen mit, dass, wenn man in Deutschland über die Vertreibung von Deutschen spricht, die Schuld der Deutschen am 2. Weltkrieg und dem Völkermord an den Juden relativiert würde. Auch jetzt bei der Debatte über den Sitz des „Zentrums gegen Vertreibungen” ist diese Angst wieder spürbar. Würde das „Zentrum gegen Vertreibungen” in Berlin womöglich das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas” relativieren? Es sind die Ängste einer Generation, die besonders in Westdeutschland jahrzehntelang mit ihren Eltern, der Kriegsgeneration, erbittert um die Frage der Schuld an dem von Deutschland initiierten Völkermord rang. Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas” in Berlin wird nach der Fertigstellung der in Beton gegossene Ausdruck dieses glücklicherweise entschiedenen Generationenkonfliktes sein.

Für die nachwachsenden Generationen ist das Jüdische Museum in Berlin aber auch in der Zukunft der bedeutend wichtigere Ort, um das Grauen des Holocaust einigermaßen erfassen zu können. Dort werden nämlich einzelne Menschen jüdischen Glaubens vorgestellt, ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Familie gezeigt. Das Individuum ertrinkt nicht in unfassbaren Todeszahlen, die Größe der Menschen wird spürbar und die Tragödie des Verlustes wird fühlbar.

Leid ist individuell und nicht aufrechenbar. Und deshalb haben auch die deutschen Opfer der Vertreibungen ein Recht, dass ihr Leid zur Kenntnis genommen wird. Doch für diese Kenntnisnahme benötigen die Opfer der Vertreibungen nicht unbedingt ein „Zentrum gegen Vertreibungen”. Das Zentrum brauchen besonders junge Menschen, die ein Anrecht haben, über alle Facetten der europäischen Geschichte informiert zu werden. Und deshalb muss das „Zentrum gegen Vertreibungen” dort entstehen, wo Jugendliche aus der ganzen Republik zumeist einmal in ihrer Schulzeit sich für einige Tage aufhalten, Museen und Gedenkstätten besuchen – in Berlin.

Ort der Versöhnung

Die Frage, ob das Zentrum nicht statt in Berlin zum Beispiel besser in Breslau untergebracht wird, stellt sich gerade für uns Deutsche nicht wirklich ernsthaft. Wenn die Polen in Breslau ein „Zentrum gegen die Vertreibungen” eröffnen wollen und uns zur Mitarbeit einladen, wäre das sehr erfreulich. Doch ob und wie die Polen das Thema der Vertreibungen aufnehmen, ist nicht unsere Sache. Wir müssen schon zuerst vor der eigenen Haustüre kehren und uns der schmerzhaften Diskussion selbst stellen.

Die Diskussion ist auch deshalb so heikel, weil Leitlinie deutscher Politik ist, dass die Betroffenen so weit wie möglich einzubinden sind. Mit den Vertriebenen und besonders ihren Verbänden haben aber viele politisch heute Verantwortliche jahrzehntelange ideologische Kämpfe geführt. Dabei scheint manchem entgangen zu sein, welchen Wandel besonders der Bund der Vertriebenen unter seiner Präsidentin Erika Steinbach in den letzten Jahren bewerkstelligt hat. Die eindrucksvolle Liste der Unterstützer der von dem Bund der Vertriebenen errichteten Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen” macht das deutlich (siehe „Ein Ort der Versöhnung” in puk Juli – August 2003). Peter Glotz sagte im Rheinischen Merkur (31.07.2003): „Wer nun den Bund der Vertriebenen bei der Planung eines Zentrums ausgrenzen will, der treibt ihn in die Ecke zurück, aus der er sich gerade herausbewegt hat.” Und ist ein „Zentrum gegen Vertreibungen” ohne Einbindung der europäischen, nicht nur der deutschen, Vertriebenen wirklich denkbar? Genauso wenig denkbar ist das „Zentrum gegen Vertreibungen” ohne das Einbinden von Wissenschaftlern aus Europa, die sicherstellen werden, dass das Zentrum keine deutsche Nabelschau betreiben wird.

Dass die Debatte jetzt, drei Jahre nachdem die Planungen für das „Zentrum gegen Vertreibungen” der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, deutlich zugenommen hat, ist positiv. Jetzt wird eine längst überfällige Diskussion über einen wichtigen Teil deutscher und europäischer Geschichte geführt. Aufgepasst werden muss aber, dass die Diskussion nicht zur Verhinderung des „Zentrums gegen Vertreibungen” missbraucht wird. Wer wie der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel in einem Aufruf verlangt, dass die Konzeption von verschiedenen europäischen Partnern gemeinsam erarbeitet werden soll und dass auch über den künftigen Sitz, ihre Trägerschaft und Organisationsstruktur gemeinsam entschieden werden soll, weiß, dass bei diesem höchst strittigen Thema noch Jahrzehnte bis zur Realisierung ins Land gehen werden.

Es ist Zeit, das „Zentrum gegen Vertreibungen” jetzt zu bauen. Über das „Wann“ und „Wo“ sollte nicht mehr gestritten werden, dafür umso heftiger über das „Wie“.

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