Caracas - Musikalische Ausbildung, soziales Projekt, Rekordorchester - «El Sistema» übt in Venezuela große Anziehung aus, die Musik hat eine gute Energie. Mit dem Absturz des Landes hat sich die Lage für die Musiker verschlechtert, «El Sistema» wurde zunehmend politisiert.
Als Mitglieder von Venezuelas berühmtem Musikbildungsprogramm «El Sistema» (Das System) einen Rekord als größtes Orchester der Welt aufstellten, war die Freude bei Noel Montilla groß. «Ich habe fast geweint: Tausende Kinder und unter ihnen meine beiden», sagt der Bäcker aus der Hauptstadt Caracas der Deutschen Presse-Agentur. «Das war sehr schön, wirklich sehr schön.»
«El Sistema» schafft immer wieder Lichtblicke im südamerikanischen Krisenstaat. Wenn in der Militärakademie von Caracas Ende November 8573 Musiker den «Slawischen Marsch» von Peter Tschaikowsky aufführen. Oder rund 350 Kinder und Jugendliche im Viertel La Ceiba im Orchester spielen, im Chor singen oder wie Valeria, 14, und Alejandro Montilla, 8, ein Instrument lernen - etwa so viele wie in 442 anderen Musikzentren im Land. Insgesamt mehr als eine Million junge Leute.
Dreimal in der Woche wird geprobt, alle zwei Wochen findet ein kleines Konzert statt, an diesem Nachmittag im Dezember etwa geben 20 Kinder Klassiker Venezuelas wie «Alma llanera» vor ausländischen Gästen zum Besten. Vor der Aufführung lachen und scherzen sie.
1975 von dem inzwischen verstorbenen Musiker und Komponisten José Antonio Abreu gegründet und staatlich finanziert, ist «El Sistema» heute ein weltweit ausgezeichnetes und kopiertes Netzwerk von Kinder- und Jugendensembles - und ein soziales Projekt, um über die Musik einen Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit zu ermöglichen.
«Hat ein Kind keine Beschäftigung, hängt es auf der Straße herum», sagt die Leiterin des Musikzentrums von La Ceiba, Angélica Teixeira, der dpa nach dem Konzert. Das kommt in der Gegend häufig vor. «'El Sistema` gibt ihm eine Chance, wir kommen wie eine Familie zusammen.»
Hunderttausende vor allem aus den Armenvierteln Venezuelas haben so wie Angélica einst, Valeria und Alejandro ein Instrument erlernt, im Orchester gespielt. Auch der berühmte Dirigent Gustavo Dudamel (40), Musikdirektor der Philharmoniker in Los Angeles und der Pariser Oper, ist aus «El Sistema» hervorgegangen.
Manche in Venezuela wunderten sich, dass der Stardirigent nicht das Rekordorchester leitete. Vom «Simón Bolivar Jugendorchester» hat sich das Kind des Sozialismus seit den Protesten 2017 mit mehr als 120 Toten jedoch distanziert, die autoritäre Regierung von Präsident Nicolás Maduro kritisiert.
«'El Sistema' lebt weiter - trotz der sehr komplexen Lage, die wir gerade in Venezuela erleben», sagte Dudamel der dpa 2018. Die Anziehung ist groß. Mehrere Eltern erzählen der dpa, ihre Kinder hätten schon mehrere Sportarten und andere Aktivitäten ausprobiert. «Sie hatte nie Motivation, aber bei 'El Sistema' ist sie dabei geblieben», sagt etwa die Mutter der Violinistin Daniela Monroy.
Die Musik hat etwas Magisches, eine besondere Energie. «Ich mag, dass all die Traurigkeit durch die Geige hindurchgehen, dass die Wut oder das Glück, die ich vielleicht habe, herauskommen kann», sagt Daniela. «Ich habe das Gefühl, ich wurde geboren, um zu spielen.» Die Konzerte sind Erfolgserlebnisse.
Daniela Monroy wohnt in dem Viertel San Agustín unweit von La Ceiba. Von oben auf dem Hügel kann man die Zwillingstürme des Parque Central sehen - zwei Wolkenkratzer, die über mehr als 20 Jahre als die höchsten Lateinamerikas galten und für den Aufschwung Venezuelas Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre standen.
Damals kurbelte die Ölindustrie das Wirtschaftswachstum an. Heute steckt das ölreiche Land in einer tiefen politischen, wirtschaftlichen und humanitären Krise. Selbst das Benzin ist knapp, Millionen Venezolaner haben ihre Heimat verlassen. Mit dem Absturz des Landes hat sich auch die Lage für «El Sistema» verschlechtert.
So trifft der Zusammenbruch der Wasser- und Stromversorgung und des öffentlichen Transportsystems die Violinistin Monroy jeden Tag. Die Mutter von Danger Mendoza, der das Saiteninstrument «Quatro» spielt und zum Rekordorchester gehörte, sagt der dpa ebenfalls: «Normalerweise kommt kein Wasser durch die Rohre.» Nur einmal in der Woche habe der Haushalt fließend Wasser.
In Mendozas Zuhause, Hochhäuser, die die Regierung des damaligen Präsidenten Hugo Chávez baute, um die Wohnungsnot der Ärmsten zu lindern, stapeln sich Dutzende Plastikflaschen mit herangeschafftem Wasser. «Wenn im Musikzentrum Wasser fehlt, dann bittet der Lehrer um welches. Eine Flasche, zwei Flaschen, drei Flaschen.»
Zwar ist der Unterricht kostenlos, das Instrument wird gestellt und die meisten Kinder nehmen es zum Üben mit nach Hause. Valeria und Alejandro Montilla etwa tragen ihre Instrumente heim. Aber «wenn Daniela sagt 'Mama, mir ist eine Saite gerissen', und die Saite ist teuer, dann schauen wir, wie wir das machen», sagt ihre Mutter. Meistens helfe dann die Familie irgendwie zusammen.
«'El Sistema' begann mit elf Notenständern und 50 Stühlen», sagt die Leiterin des Musikzentrums von La Ceiba, Angélica Teixeira, zu den Herausforderungen durch die Krise. «Ich glaube, dass es keine Grenzen gibt, um nicht zur Probe zu gehen. Man muss einen Weg finden, um zu garantieren, dass das Kind Musikunterricht bekommt.»
Die zunehmende Politisierung stört einige Eltern allerdings. Gründer Abreu hatte breite Anerkennung bekommen, «El Sistema» blieb auch nach Regierungswechseln und ideologischen Kehrtwenden bestehen. Ein Foto des Rekordorchester zeigte Präsidentensohn Nicolás Maduro Guerra Flöte spielend. Andererseits hieß es, die Musiker hätten nichts zu essen bekommen. «Das hat mich geärgert», sagt Daniela Monroys Mutter. «Es sind Kinder, Jugendliche. Das sollte nicht instrumentalisiert werden. Die Musik ist für alle da.»