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Derzeit eher die Ausnahme: gut besuchte Chorkonzerte. Foto: Juan Martin Koch
Derzeit eher die Ausnahme: gut besuchte Chorkonzerte. Foto: Juan Martin Koch
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Lücken im Kinderchor und im Publikum

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Kathrin Schlemmer, Ester Petri und Tobias Brommann im Gespräch über die Fortsetzung der ChoCo-Studie
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Auf große Resonanz stieß im vergangenen Jahr die „ChoCo-Studie“ zur Situation von Chören in der Pandemie. Über deren Fortsetzung (siehe unten stehenden Text) sprach Juan Martin Koch mit Kathrin Schlemmer (Professorin für Musikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt), Ester Petri (Geschäftsführerin des Carus-Verlags) und Tobias Brommann (Kantor am Berliner Dom).

neue musikzeitung: „Perspektiven für einen ‚Neustart Chormusik‘?“ haben wir bei der Veröffentlichung der ersten „ChoCo-Studie“ im Mai 2021 getitelt. Hat es einen solchen „Neustart Chor“ gegeben?

Tobias Brommann: Jein. Es gab eine Menge Hilfsangebote, die mit der Zeit auch so modifiziert wurden, dass man wirklich davon profitieren konnte. Ich fürchte aber, dass viele von der Bürokratie abgeschreckt wurden und sie gar nicht in Anspruch genommen haben. Was die Chöre angeht, so habe ich den Eindruck, dass diese sich wieder füllen und stabilisieren. Wir haben wieder einen Zulauf und das ist erfreulich. Neulich sagte jemand zu mir: Die Chöre sind zwar zum Teil geschrumpft, aber diejenigen, die jetzt mitsingen, die wollen wirklich! Tatsächlich spürt man, dass die Motivation sehr groß ist. Einige halten sich aber noch aus Vorsicht zurück, andere sind wahrscheinlich dauerhaft verloren.

Da wächst eine Lücke hoch

Es bleiben zwei große Probleme: Das eine sind die extrem geringen Besucherzahlen bei Konzerten und damit die Einbrüche bei den Einnahmen. Das andere besteht darin, dass bei den Kinderchören in diesen zwei Jahren etwas weggebrochen ist, was nicht wieder aufzuholen ist. Da wächst eine echte Lücke hoch. Ich starte gerade einen Kinderchor mit vierten Klassen. Das Potenzial ist da, aber sie können es nicht, sie sind, was die Fähigkeiten angeht, auf dem Stand von Vier- oder Fünfjährigen. Das ist eine Katastrophe. Das wird die größte Zukunftsaufgabe sein, und hier fehlt es am Stärks­ten an personellen Ressourcen.

nmz: Deckt sich das mit Ihren Ergebnissen aus der zweiten Erhebung, Frau Schlemmer?

Kathrin Schlemmer: Die Terminologie „Neustart“ suggeriert ja, das Chorsingen sei eine Art Sprint. In Wirklichkeit ist es aber ein Marathon! Wenn hier etwas wegfällt, wird uns das, wie Herr Brommann gesagt hat, sehr lange beschäftigen. Insofern verbindet sich mit der Forderung nach einem Neustart schon die Idee, dass den Chö­ren geholfen wird, um über aktuelle finanzielle Engpässe hinwegzukommen. Manche Probleme werden wir aber nicht mit Geld lösen können. Die Daten unserer zweiten Erhebung weisen auf eine vorsichtige Erholung hin, aber nicht in dem Sinne, dass es so ist wie vor der Pandemie. Das sehen wir in fast allen Bereichen: Bei den Mitgliederzahlen ist die Situation etwas besser, aber nicht gut. Bei den Finanzen sind die Chöre etwas optimistischer, aber die Lage ist vielfach noch prekär, sodass manche ihre freiberuflichen Chorleiter nicht mehr bezahlen können. Und jeder fünfte Chor probt nach wie vor nicht!

nmz: Wie ist die Lage aus Sicht eines Verlages mit dem Schwerpunkt Chormusik?

Ester Petri: Hier kann ich bestätigen, dass es ein bisschen besser geworden ist, aber eben nur ein bisschen. Wir sind noch weit von normalen Umsätzen entfernt. Vom Repertoire her merken wir, dass die Bearbeitungen großer Werke für kleinere Besetzungen, die wir während der Pandemie noch stärker und schneller ausgebaut haben, als vorher geplant, sich sehr gut machen. Sie erlauben jene Flexibilität, die es heute braucht. Der Chor probt wie immer und dann schaut man, wie viel Orchester man finanzieren kann. Auch der zweite Band unseres dreistimmigen Chorbuchs stößt auf großes Interesse. Das freut uns, aber es sagt natürlich auch viel über das derzeitige Niveau der Chöre aus… Ansonsten teile ich die Sorge Tobias Brommanns, die wir von sehr vielen Chören zurückgespielt bekommen: Das Publikum bleibt aus.

nmz: Ist da eine Tradition abgebrochen? Ging den Menschen während der Pandemie das Konzerterlebnis nicht so sehr ab, wie man vielleicht gehofft hat?

Brommann: Das aus dem Haus gehen, das gemeinschaftliche Erleben haben wir uns allgemein ein wenig abgewöhnt, fürchte ich. Der Chorgesang speziell war natürlich stark in Verruf geraten. Außerdem gibt es nun vielleicht ein Überangebot, weil so viel Ausgefallenes nachgeholt wird. Die genauen Gründe müsste man wahrscheinlich in einer weiteren Studie untersuchen…

Schlemmer: Die Präsenzformate insgesamt leiden sehr stark. Es hat eine Umgewöhnung stattgefunden. Vielleicht findet das Publikum die Hybridformate viel weniger schlimm als wir? Wie man das umkehren kann, weiß ich nicht. Spezielle Events funktionieren oft noch, aber das „Normale Konzert“ nicht immer.

Petri: Wobei Chöre den Vorteil haben, dass sie das Publikum sehr gut einbinden können, mit einem gemeinsamen Lied am Ende zum Beispiel. Aus einem solchen Konzert geht man ganz anders heraus, glaube ich.

nmz: Wie kam es zu dieser zweiten Umfrage, Frau Schlemmer, und wie bewerten Sie den Rücklauf?

Schlemmer: Im Frühjahr 2021 dachten wir alle, wir seien mehr oder weniger am Ende der Pandemie. Dann kamen die weiteren Wellen und wir konnten nicht sagen, ob die Zahlen, die wir zu sinkenden Mitgliederzahlen und Probenfrequenzen erhoben hatten, einen dauerhaften Verlust bedeuten. Zum Jahresende hin haben wir dann beschlossen, die Befragung zu wiederholen, um zu sehen welche Entwicklungen dauerhaft sind und wie es weitergeht. Wir haben dann leider zeitgleich mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs gestartet und haben die Erhebung wegen des geringeren Rücklaufs doppelt so lange laufen lassen wie die erste. Die Chöre waren auch in einer anderen Situation als 2021, weil sie nicht mehr so auf Null gesetzt waren. Rund 1.000 Antworten sind immer noch sehr gut, denke ich. Wir richten sozusagen einen Scheinwerfer auf die Situation und hoffen, sie einigermaßen gut abgebildet zu haben.

Singende Schulen als Ziel

nmz: Was kann, was muss jetzt für den Chorgesang getan werden?

Schlemmer: Wenn im Klassenverband gesungen wird, ist schon viel gewonnen. Das zieht aber eine Menge nach sich: Es müssen ausgebildete Lehrer*innen da sein, die das dann auch vernünftig anleiten können. Das kann man aber nicht auf die Schnelle lösen, weil es nicht genügend Fachkräfte gibt – mit Staatsexamen wohl gemerkt, freie gäbe es… Vielleicht können Förderprogramme und Wettbewerbe kurzfristig helfen.

Brommann: Das Ziel müsste eine singende Schule sein: dass das Singen einfach zum täglichen Ablauf dazugehört. Wenn man das erreichen könnte, dann würde über die Jahre auch in den Chören etwas passieren. Daran kann man arbeiten!

Schlemmer: Ich bin ja gleichzeitig in der Lehre aktiv und bin sehr glücklich, dass die Lust der Studierenden auf Musik überhaupt nicht abgenommen hat. Auf der Ebene nach der Schule passiert sehr viel. Die Musiker*innen wachsen nach!

Petri: Entscheidend ist das gemeinschaftliche Singen an vielen Orten, von der Kita bis zum Seniorenheim; das zu ermöglichen, auch auf kleiner Ebene. Das kann dann Stück für Stück professionalisiert werden. Zunächst muss man aber einfach einmal erfahren, wie gut es tut, gemeinsam zu singen!

Siehe auch:

Chöre im zweiten Jahr der Pandemie
Die Fortsetzung der ChoCo-Studie belegt weiterhin instabiles Proben- und Konzertwesen

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