Nicht immer sind die Orte großer Kreativität selbst gewählt, mitunter werden sie von den Zeitläuften grausam erzwungen, wie ein Blick auf die Entstehungsumstände des „Quartetts auf das Ende der Zeit“ („Quatuor pour la fin du temps“) von Olivier Messiaen sofort beweist. Der französische Komponist (1908–1992) war bereits ein anerkannter Musiker der Moderne, als Nazi-Deutschland am 1. September 1939 mit seinem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach. Der aus Avignon stammende Messiaen lebte seit 1919 in Paris, wo er ab 1931 als Organist an der Kirche La Trinité wirkte. Erste Kompositionen, die er dort schuf, waren Stücke für Orgel, Klavier sowie kammermusikalische Arbeiten.
Im Sommer 1940, unmittelbar nach der deutschen Okkupation von Belgien, Holland, Luxemburg und Frankreich, geriet er in Kriegsgefangenschaft. Seine Kompanie wurde zunächst auf einem Feld in der Nähe von Nancy festgehalten, wo Messiaen neben weiteren Musikern auf Henri Akoka stieß, einen Klarinettisten vom Orchestre National de France. Der hatte sein Instrument dabei und studierte unter freiem Himmel ein Solostück ein, das Messiaen dort für ihn schrieb. Daraus sollte wenig später der dritte Satz des berühmten Quartetts werden.
Denn noch im Juli kam die Truppe nach Görlitz ins Stammlager VIII A. Die deutsche Wehrmacht hatte bereits 1938 konkrete Kriegsvorbereitungen getroffen und im einstigen Reich sogenannte Durchgangs- und Stammlager (DuLag und StaLag) errichtet. In Görlitz-Moys, heute am Stadtrand des polnischen Zgorzelec gelegen, sind etwa 100.000 bis 120.000 Gefangene durch dieses Lager VIII A gegangen.
Den westlichen Alliierten standen gewisse Rechte wie Briefwechsel, Lektüre, Religionsausübung und kulturelle Tätigkeiten zu, deren Einhaltung das Internationale Rote Kreuz kontrollierte. Auch das StaLag VIII A hatte eine sogenannte Theaterbaracke, in der zumeist seichte Unterhaltung, Musik und Varieté präsentiert wurde.
Am 15. Januar 1941 erklang dort zum ersten Mal das „Quatuor pour la fin du temps“. Dieser Uraufführung, die Olivier Messiaen am Klavier, Jean Le Boulaire (Violine), Henri Akoka (Klarinette) und Etienne Pasquier (Violoncello) gemeinsam bestritten, wohnten etwa 400 Zuhörer bei. Hungernde, frierende Menschen, fern ihrer Heimat – im schlesischen Niemandsland von dieser so sonderbaren Musik fasziniert.
Zeitenwechsel
Etwa eineinhalb Jahre nach der Uraufführung des Quartetts wurde in Leipzig Albrecht Goetze geboren. Der hörte das Werk mehr als ein halbes Jahrhundert später erstmals und geriet sofort ins Schwärmen: „Diese Musik ist wie Jazz!“ Von einem Freund erhielt der als Werkzeugmacher ausgebildete, als Regisseur und Komponist reüssierende Mann die Partitur des Quartetts und stieß darin auf einen Hinweis zum Entstehungsort Görlitz, StaLag VIII A. Albrecht Goetze, fasziniert von dieser Musik, wollte dahin, reiste von München nach Görlitz, wo niemand etwas mit diesem Kürzel anzufangen wusste. Erst auf polnischer Seite in Zgorzelec wurde er zum einstigen Lagergelände verwiesen. Seit über sechzig Jahren sprießenden Wildwuchs fand er da vor.
Goetze erwies sich umgehend als ein im besten Sinne des Wortes Besessener. Er wollte dort leben, wo diese Musik entstanden war, übersiedelte nach Görlitz und arbeitete am Theater, widmete sich bald ausschließlich eigenen Ideen, weiteren Kompositionen also und bald dem Meetingpoint Music Messiaen. Dieses Projekt bleibt für immer mit dem Namen Goetzes verbunden, denn dafür redete er mit den Bürgermeistern von Görlitz und Zgorzelec, mit sächsischen und schlesischen Politikern, mit Europa-Abgeordneten, Wirtschaftsleuten und Künstlern. Besessen von der Idee, dass dieser Ort „durch erlittenes Leid geheiligt“ sei und kommenden Generationen „die Kraft des Geistes“ nahebringen solle, mit der Faschismus und Stalinismus letztlich überwunden worden sind.
Albrecht Goetze, der energisch inspirierend dafür sorgte, dass das einstige Lager als Gedenkstätte erhalten und nicht als renditeträchtiges Bauland genutzt wurde, hatte sogleich grenzübergreifende Jugendarbeit im Blick, als er den Meetingpoint Music Messiaen entwickelte. Von seiner packenden Art ließen sich Förderer und Politiker anstecken, die mithalfen, dieses Projekt voranzubringen. Mit zunächst verstörender, heute längst selbstverständlicher Konsequenz wird ausschließlich von der europäischen Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec gesprochen, auf dem StaLag-Gelände finden regelmäßig freiwillige Arbeitstreffen von Jugendlichen aus Deutschland, Italien und Polen statt. Von Jahr zu Jahr wird deutlicher sichtbar, wo sich welche Baracken befanden – Schautafeln weisen darauf hin – seit kurzem stehen auch großformatige Installationen des Görlitzer Künstlers Matthias Beier in der Natur. Zu jedem der acht Quartett-Sätze will er eine symbolhafte Metallplastik schaffen.
Ein anderes Denkmal wurde schon 1965 errichtet, als erstmals französische Kriegsgefangene zum StaLag VIII A zurückkehrten und dort eine Stele sowie eine Gedenkplatte stifteten. Den Einwohnern der seinerzeit gründlich geteilten Grenzstadt war die Existenz des Lagers am Ortsrand weitgehend unbekannt, das Material wurde nach Kriegsende für andere Zwecke gebraucht, aufgrund der Umsiedlung großer Bevölkerungsteile kamen vorwiegend Menschen aus weit östlichen Regionen nach Zgorzelec, die von der Geschichte der Neiße-Stadt nichts wussten. Aus deutscher Sicht war die polnische Seite der Stadt vierzig Jahre lang weiter entfernt denn je.
Diese Tatsachen wieder erinnert und das Gedenken ermöglicht zu haben, sind bleibende Verdienste von Albrecht Goetze, der sich nach zehn Jahren vehementem Kampf für den Meetingpoint – dessen Patenschaft die Witwe des Komponisten, Yvonne Loriod-Messiaen, bis zu ihrem Tod 2010 innehatte – aus seinem Engagement zurückgezogen hat. In dieser Zeit legte er wichtige Grundlagen, um in Görlitz-Zgorzelec „Inseln des Gedenkens und der Hoffnung“ zu etablieren. Perspektivisch wird nicht nur das einstige Lagergelände erschlossen und dokumentiert, um die Substanz des Grauens wieder sichtbar zu machen, sondern soll ein Begegnungszentrum errichtet werden, das „kulturellem Umweltschutz“ gewidmet ist, wie Goetze es als bleibende Aufgabe formuliert hatte. Jahr für Jahr erklingt inzwischen am Uraufführungsdatum 15. Januar das „Quatuor pour la fin de temps“ in einem Zelt am Ort seiner Entstehung. Jahr für Jahr können die Zuhörer, wie einst Olivier Messiaen in seiner Gefangenschaft, „lebhafte Farbträume“ empfinden, den „Regenbogen des Engels, (…) der das Ende der Zeit verkündet.“
Zukunftshoffen
Das Konzert in diesem Jahr, 73 Jahre nach der aus heutiger Sicht unvorstellbaren Uraufführung, war voraussichtlich das letzte unter diesen Bedingungen. Sozusagen das Ende der Zeit im Zelt. In den kommenden Monaten soll auf dem Lagergelände ein Zentrum für Bildung und Kultur entstehen, also endlich ein festes Haus für den Meetingpoint. Ausstellungen, Konzerte und Seminare sind in dem EU-geförderten Neubau geplant, endlich eine Heimstatt für den europäischen Messiaen-Treffpunkt.
Damit könnte die diesmal vom belgischen TetraGonist-Quartett (Sven Van De Voorde (Klarinette), Jens Lynen (Violine), Lieselot Watté (Cello), Mathias Coppens (Klavier)) geleistete Interpretation des Stückes eine Zäsur bedeuten. Nächstes Jahr im Konzertsaal!