Bester Laune, ja geradezu launig eröffneten die beiden Vorsitzenden von AfS (Arbeitskreis für Schulmusik) und VDS (Verband Deutscher Schulmusiker), Jürgen Terhag und Ortwin Nimczik, den ersten gemeinsamen „Bundeskongress Musikunterricht“ in Weimar. Terhag versah das gesungene Warm-Up mit einem verbandspolitischen Unterton, der sowohl den Stolz auf das Erreichte als auch den recht mühevollen Weg dorthin anklingen ließ. Im vierstimmigen Dreiklang sangen die Teilnehmer in der Weimar-Halle die Wortfolgen „Imitation-Konfusion-Transpiration-Kongressfusion“, „Vision-Irritation-Mediation-Verbandsfusion“. Ortwin Nimczik, im Publikum sitzend, meldete sich per Handy zu einem locker-zufriedenen Plausch.
Grund zu entspannter Zufriedenheit bestand durchaus. 1.600 Teilnehmer, 2.000 Mitwirkende aus der Region, 17 Tagungsorte innerhalb der Stadt, in vier vollen Kongresstagen 380 Veranstaltungen, davon bis zu 28 parallel zur gleichen Zeit – das Angebot war so groß wie wohl noch nie auf einem musikpädagogischen Kongress in Deutschland. Die Organisation klappte gut, die Atmosphäre gestaltete sich freundlich, Missklänge zwischen AfS und VDS waren nirgends zu spüren. Ein inhaltliches Fazit zu ziehen, fällt schwer. Manch einer saß zaudernd vor dem Angebot wie an einer riesigen Speisekarte, bei der einem auf jeder Seite das Wasser im Munde zusammenläuft. Oft fiel bei der Wahl ein attraktives Angebot einem noch attraktiveren zum Opfer. Und so müsste man für eine Bilanz verfahren wie König Cleontes in Shakespeares „Wintermärchen“, der am Ende alle Teilnehmer des Spiels an einen ruhigen Platz führt, wo sie sich gegenseitig berichten können, was sie an den verschiedenen Orten erlebt haben.
„Das Wintermärchen“ hatte am vorletzten Kongresstag Premiere im Nationaltheater, und wer die Aufführung besuchte, hätte eine Stecknadel fallen hören können – so konzentriert lauschte das Publikum, eine Schulklasse im zweiten Rang eingeschlossen. Weimar als Kulturstadt, das ist hörbar und offensichtlich mehr als ein Mythos. Reizvoll waren schon die Wege durch die Innenstadt im Areal zwischen Stadtverwaltung, Weimarhalle und Musikhochschule. Und der Kongress nahm sich Zeit: Zwischen den einzelnen Kursblöcken lag mindestens eine 60-Minuten-Pause – Gelegenheit für ein Gespräch, eine Mahlzeit, einen Gang über die Verlagsausstellung oder einen Bummel in die Innenstadt.
Natürlich lief nicht alles glatt. Materialien kamen zu spät, Referenten wurden krank. Kurse fielen aus oder wurden kurzfristig verlegt, Räume waren überfüllt, und nicht immer hatten die Organisatoren bedacht, dass Musik „mit Geräusch verbunden“ ist und laute Aktivitäten die leiseren nebenan stören. Doch Musikpädagogen wissen, an welch seidenem Faden das Gelingen des eigenen Musikunterrichts manchmal hängt. Mit freundlicher Gelassenheit nahmen sie die Pannen hin, und die Dozenten überspielten die Situation mit Kompetenz, Geduld und Charisma. Eines fiel aber doch auf: Wer den Einsatz eines Beamers für zeitgemäßer hält als das Verteilen von Papier, sollte vorher bedenken, ob die Schrift auf der Leinwand auch in den hinteren Reihen zu erkennen ist. Dass bei der Präsentation des HR-Funkkollegs Musik die Beamer-Leinwand ein „No signal“ zeigte, war allerdings kalkuliert. Neu ist für viele Jugendliche die Erfahrung, dass es auch Radio zum Zuhören gibt, und nach den Erfahrungen des die Sendungen begleitenden Lehrerteams sorgt dies zumeist für besondere Aufmerksamkeit.
In seinen beiden Veranstaltungen setzte das HR-Team einmal einen musikpsychologischen und einmal einen politischen Schwerpunkt – bis hin zu aktuellen Erkenntnissen über die rechtsradikale Indienstnahme von Musik. Insgesamt wurden die Zusammenhänge von Musik und Gesellschaft wenig belichtet, obwohl die städtische Umgebung es eigentlich nahelegte. In unmittelbarer Nähe der Weimar-Halle liegt das „Gauforum“ aus der NS-Zeit. Die hier an der Stirnseite liegende „Halle des Volkes“ wurde erst zu DDR-Zeiten fertiggestellt. Nach der Wiedervereinigung wurder Bau in einen monumentalen Konsumtempel mit Tiefgarage und Kitsch-Venedig im Obergeschoss verwandelt. Vorne zieren ihn zwei Fragmente der Berliner Mauer, auf der Rückseite Graffitis – insgesamt eine anschaulich kondensierte Zeitgeschichte der letzten 80 Jahre. Am nächsten dran war hier das Podium über Rahmenbedingungen, Chancen und Grenzen von Rock und Pop in der DDR.
Zeitgemäß gab sich ein junger Dozent, der die Teilnehmer ganz locker zu rhythmischen Aktionen in und um die Weimar-Halle schickte, um sie anschließend mit dem Plenum zu beobachten und zu filmen. Eine Abteilung sandte er auf das Herren-WC. Dass dies den Akteuren, Beobachtern und Benutzern der einzigen vorhandenen Toiletten-Anlage unangenehm sein könnte, war außerhalb seines Horizonts. Man sieht, wie die Internet-Kultur das Gefühl für Privatsphäre beschädigt. Auf sympathischere Weise modern dachten die Veranstalter, als sie den Kongress zu einem Flashmob am Samstagnachmittag auf den Theaterplatz einluden. Doch anstatt plötzlich und unerwartet aufzutauchen und ebenso blitzartig („flash“) zu verschwinden, sammelten sich die Schulmusikerinnen und Schulmusiker einträchtig auf dem Platz und lauschten den drei eingeweihten Straßenmusikern, bis der Posaunist „Freude schöner Götterfunken“ anstimmte. Zweimal sang die Versammlung die ersten beiden Strophen von Beethovens Vertonung der Schiller-Verse – zuerst ohne, dann mit den von einer großen Drogeriekette gespendeten grünen Schirmen. Die Passanten zeigten sich kaum irritiert. Aber immerhin hatte der Kongress einem der beiden Dichterfürsten auf dem Denkmalsockel seinen Tribut gezollt. Die beiden letzten Kongresse hatten die Schwerpunkte „Aufbauender Musikunterricht“ (VDS 2010) und „Klassenmusizieren“ (AfS 2011).
Diesmal war mit dem Motto „Bildung – Kultur – Musik – Zukunft gemeinsam gestalten“ offensichtlich eine Weitung des Horizonts auf die Bildungs- und Kulturpolitik beabsichtigt. Bei der Gesamtplanung war aber zu wenig im Blick, dass die in den Vorgänger-Kongressen angesprochenen innerfachlichen Aufgaben und Probleme an Aktualität und Interesse eher gewonnen haben. Die Fragen nach Qualitätskriterien für das Klassenmusizieren und nach seiner Einordnung in ein Gesamtkonzept musikalischer Bildung stehen nach wie vor im Raum. Ebenso fehlt es an Perspektiven, wie sich aufbauender Musikunterricht in der Mittelstufe fortsetzen kann, wenn die Schüler „von Du-Da-Di oder Do-Re-Mi nichts mehr wissen wollen“. Dass einer der maßgeblichen Vertreter dieses Konzepts in seiner Veranstaltung dazu kaum mehr zu sagen wusste als schon in der Ankündigung stand, war enttäuschend. Nicht nur der Musikunterricht als solcher, sondern auch die Fortbildung seiner Lehrkräfte braucht Kontinuität und Progression.
Auf dem Podium über „Klassenmusizieren als Gegenstand der Musiklehrer-Ausbildung“ machte Jürgen Terhag klar, dass die Methode nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine künstlerische Herausforderung ist: „Das innere Publikum ist eine wichtige Instanz.“ Immer wieder müsse der Lehrer kurzfristig aus der Akteursrolle heraustreten und sich fragen: „Würdest du dir das freiwillig anhören, oder würdest du weglaufen?“ Dass das Klassenmusizieren an vielen Musikhochschulen inzwischen elementarer Bestandteil des Schulmusikstudiums ist, stimmt zuversichtlich. Nachdenklich wird man wieder, wenn auf dem Podium eine kurz vor dem Abschluss stehende Studentin mutig bekennt, dass sie nicht wisse, welchen Anspruch sie überhaupt ihrem Unterricht zugrundelegen könne. Offensichtlich kommen innerhalb des Studiums die zentralen Fragen nach der Aufgabe von Musikunterricht heute, nach der Identität und dem Selbstkonzept der Lehrenden zu kurz. Doch man kann fragen: Nur dort?
„Fragen sind genauso wichtig wie Antworten – das ist wie in der Philosophie!“, betonte Terhag auf dieser Veranstaltung. Aber wo ist denn noch Platz für Fragen im Räderwerk des modularisierten Studiums, der gestrafften Referendarausbildung und des hektischen Schulalltags? Selbst die Kongressteilnehmer belohnten sich für ihren anstrengenden Dienst vorzugsweise mit musikpraktischen Kursen und wichen den reflektierenden Foren und Arbeitskreisen aus. Der Arbeitskreis Abitur fiel aus, zum Arbeitskreis Fortbildung fand ein Teilnehmer, zum Arbeitskreis Sekundarstufe zwei. Und beim Expertengespräch mit Vertretern der drei künstlerischen Fächer zum Thema „Zukunft gemeinsam gestalten“ saßen nur 16 Hörer den sieben Diskutanten auf dem Podium gegenüber.
Es fragt sich nur, wie das Fach Musik bei dieser Reflexionsmüdigkeit vor den Herausforderungen bestehen will. Heterogenität etwa ist ja keine minis-terielle Erfindung, sondern tatsächlich vorhanden. Wie kann eine Schule entstehen, in der Unterschiedlichkeit als Chance für das Lehren und Lernen genutzt wird und wo Schülerinnen und Schüler als Subjekte eigenen Lernens wahrgenommen werden? Eine Schule, in der die Lehrkräfte Zeit und Raum haben fürs Zuhören, Hinsehen und Nachdenken einerseits, fürs Probieren, Palavern und Planen andererseits? Wenn nicht nur, wie auf dem gemeinsamen Podium angekündigt, die Fachverbände für Musik, Kunst und Darstellendes Spiel künftig zusammenrücken, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen, steigen sicher die Chancen für eine Zukunft des Ästhetischen innerhalb und außerhalb der Schule.