In wenigen Tagen wählt der Deutsche Musikrat ein neues Präsidium. Hoffentlich mit einem klaren Ziel vor Augen: neue und aussichtsreiche Perspektiven für seine Arbeit und damit für das Musikleben in Deutschland zu eröffnen. Sind wir zufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand des DMR? Welche inhaltliche Ausrichtung soll das zukünftige Präsidium verfolgen und was muss sich ändern, damit der Musikrat für seine Ziele stärkere Wirksamkeit entfalten kann?
Mehrere Kollegen haben in den letzten Ausgaben der neuen musikzeitung Positionen zu diesen Fragen bezogen. Meine Überlegungen hierzu beruhen auf langer Mitarbeit im DMR, aber auch auf einer Außensicht, die sich nach meinem Wechsel ins Nachbarland Österreich im Jahr 1995 nach und nach ergeben hat.
Blick von außen und von innen
Von Außen betrachtet erscheint der DMR als Paradebeispiel einer starken, hervorragend strukturierten Kulturorganisation. Ein einflussreicher Zusammenschluss von eigenständigen, gut organisierten Verbänden, wie man ihn sich in vielen europäischen Ländern dringend wünschen würde – ohne ernsthaft an die Möglichkeit zu glauben, im eigenen Land ein vergleichbares System zu etablieren. Also alles zum Besten?
Für Insider ergibt sich ein anderes Bild: Glanz, Ausstrahlung und Autorität des Deutschen Musikrates haben nachgelassen – trotz großen Arbeitseinsatzes vieler Beteiligter, trotz mancher neuer Ideen, trotz vieler guter Papiere. Einen Imageverlust nehmen jedenfalls etliche Beobachter der Szene wahr. Fragt man nach den Gründen, so wird man zuallererst noch immer an die Insolvenz in den Jahren 2002/03 und ihre Folgen denken müssen. Sie hat den Deutschen Musikrat kräftig durchgeschüttelt und sein Verhältnis zu den „öffentlichen Händen“ destabilisiert. In ihrem Schreck darüber, was passiert war (und ja auch eigene Versäumnisse widerspiegelte) überreagierten die Regierungsvertreter und stellten die unglaubliche Forderung, über die Rechtsform zu entscheiden, in der der Musikrat zukünftig seine Projektarbeit zu erledigen habe.
Ja, die Insolvenz verlangte Konsequenzen. Aber es hätte vollkommen ausgereicht, die bis dahin fehlende Position eines hauptamtlichen Finanzverantwortlichen im DMR zu schaffen und die Aufsichtspflicht intern und extern konsequent wahrzunehmen. Aber man wollte ein stärkeres Zeichen setzen und verlangte eine Neustrukturierung im Wege einer GmbH. Dies folgte einer Losung, die die frühere Ministerin Christina Weiss aus Hamburg mitgebracht und in Berlin als Heilsweg ausgegeben hatte. Für den DMR und seine Aufgaben kein guter Weg!
Warum? Ist es nicht am Ende gleichgültig, in welcher Rechtsform die Projekte und die musikpolitische Arbeit abgewickelt werden; ob sich alles unter einem Dach oder durch Kooperation zweier befreundeter Organisationen abspielt? Weshalb ist diese Frage so wichtig, dass man nicht zur Tagesordnung übergehen kann?
Weil die Stärke des Musikrates immer darin lag, dass er nicht nur Musikpolitik gepredigt, sondern auch gestaltend vorgelebt hat. Damit ließ er – anders als andere Interessenverbände – keine Zweifel zu, ob seine Forderungen in erster Linie mit gesellschaftlichen Notwendigkeiten oder eher doch mit standespolitischen und merkantilen Zielen verknüpft sind. Die kulturpolitischen Erklärungen, öffentlichen Debatten und Positionspapiere des Musikrates sind ohne das Wechselspiel mit den Projekten nur die Hälfte wert und dem „politischen Musikrat“ fehlt ein großer Teil seiner Kraft und seines Gewichts ohne den Unterbau seiner hochgeschätzten Projekte.
Unerklärlich war und bleibt, dass der Musikrat sich diesem Diktat beugte und sich bis heute nicht in der Lage sah, einen einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung Realität werden zu lassen. Diese verzagte Haltung hat dem Innenleben, dem Image und dem Selbstbewusstsein des DMR geschadet. Darum wird das Thema dem kommenden Präsidium erhalten bleiben.
Ein selbstbewusstes Verhältnis zur „Öffentlichen Hand“
Schließlich hat der Musikrat allen Grund, seine Arbeit gegenüber Politik und Öffentlichkeit selbstbewusst zu vertreten. Mit hohem Anspruch und ungewöhnlichem Enthusiasmus erledigt er seit Jahrzehnten einen großen Teil jener musikkulturellen Aufgaben, an denen der Staat ein fundamentales Interesse haben muss, die mit Fug und Recht als Staatsaufgaben zu bezeichnen sind:
Nachwuchspflege und Qualitätsförderung in Breite und Spitze (Jugend musiziert, Deutscher Musikwettbewerb, BJO, Dirigentenforum …)
Pflege des Laienmusizierens (Chorwettbewerb, Orchesterwettbewerb …),
besondere Innovationsimpulse (Konzerte des Deutschen Musikrats, Pop Camp …)
Dokumentation des Musiklebens in Deutschland und Information über die gegenwärtige Szene (MIZ, Musik in Deutschland, Musikforum …).
Der Musikrat leistet diese Arbeit mit einer kleinen Gruppe von hauptamtlichen und einem großen Pool ehrenamtlicher Mitarbeiter in beispielhafter Weise und ermöglicht es der Regierung, die öffentlichen Hände – abgesehen von der gewiss nicht einfachen Bereitstellung der Mittel – entspannt in den Schoß zu legen. Die Dankbarkeit, die der Musikrat für diese Arbeit verdient hat, kommt gelegentlich in öffentlichen ministeriellen Grußbotschaften zum Ausdruck. Die Alltagsbeziehungen sind oft von anderer Art. Sie lassen sich mit einem Begriff beschreiben, den es vielleicht nur in Deutschland geben kann – er heißt: „Zuwendungsempfänger“.
Hier müssen die Verhältnisse (wieder) ins Lot gebracht werden! Der Musikrat verfolgt nicht in erster Linie eigene Ziele, sondern leistet eine Arbeit, die für das Gemeinwesen unendlich bedeutsam ist. Er verdient als wichtiger Partner des Staats Respekt vom Minister bis zur „unteren Beamtenebene“. Und weil er diese Aufgaben bestens erfüllt, ist es sein Recht, ja seine Pflicht, auch Forderungen zu stellen – ohne sich dafür zu entschuldigen und ohne dass die verantwortlichen Personen sich erst umziehen und in das Kleid einer anderen Organisation schlüpfen müssen.
Die inhaltliche Arbeit im Vordergrund
Richten wir auch einen kritischen Blick nach innen. Welche Wege müssen wir „im eigenen Haus“ beschreiten, damit der Musikrat seine volle Kraft wiedergewinnen und die Wirkung entfalten kann, die das Musikleben in Deutschland braucht? Der Musikrat soll sich mit aller Kraft der inhaltlichen Arbeit widmen und jede Form von „Funktionärskultur“ vermeiden.Der Deutsche Musikrat war und ist inhaltlich stark – sonst hätte es die beschriebenen Erfolge nicht geben können. Aber gelegentlich verfällt er der Neigung, sich in Debatten zu verstricken, die der Kultur der Kulturarbeit nicht entsprechen.
Der DMR und sein Präsidium sind sehr auf die Unterstützung der Mitgliedsverbände angewiesen und in diesem Sinn ist es richtig, dass die starken „Player“ im Präsidium und in anderen Gremien personell angemessen vertreten sind. Aber vor allem geht es (auch bei der Wahl!) um Persönlichkeiten, die Musikratsarbeit gestalten wollen. So haben manche Fachausschüsse intensive Debatten geführt und gute Empfehlungspapiere erarbeitet. Aber es gibt auch Ausschüsse, deren personelle Zusammensetzung mit einem Aufwand geklärt wurde, der zu späteren Ergebnissen in keinem vernünftigen Verhältnis stand. Das darf nicht Stil des Musikrats sein. Persönlichkeiten statt Proporz – inhaltliche Arbeit statt Repräsentanz!
Drehscheibe und Verstärker
Die Mitglieder des DMR werden dessen Arbeit umso mehr schätzen und unterstützen, je mehr sie ihn als Verstärker der eigenen Aufgaben und Ziele erleben. Inhaltliche Erneuerungen, die von einzelnen Mitgliedern entwickelt werden, aber das ganze Musikleben betreffen könnten, sollen über die Drehscheibe des DMR Verbreitung finden. Themen wie Musikvermittlung oder 50+ sind Beispiele, wie dieses Prinzip Wirkung entfalten kann. Einem anderen bedeutenden Thema, dem Großprojekt Jeki – vielleicht eine Jahrhundertchance der Musikpädagogik – fehlt möglicherweise eine konstruktiv-kritische Begleitung. Gerade weil Jeki und seine Ableger nicht nur einem Mitgliedsverband „gehören“, könnte der Musikrat sich einschalten und mithelfen, politische Ziele und musikpädagogischen Qualitätsanspruch in Einklang zu bringen. „Als Verstärker handeln“, erfordert enge Absprache mit den unmittelbar Verantwortlichen. Wenn sich die Hochschulen für eine bessere personelle Ausstattung, die DOV gegen die Auflösung von Orchesterstandorten einsetzen, dann werden ihre Argumente leicht als Pflichtübung von Lobbyisten eingestuft. Sie werden dankbar sein, wenn der DMR sich aus einer Gesamtsicht kultureller Verantwortung heraus in die Debatte einschaltet. Anders verhält es sich bei ungebetener Einmischung in innere Angelegenheiten. So ist die Frage der Studiengangsstrukturen bei den Hochschulen und der Rektorenkonferenz, ihrem gemeinsamen Sprachrohr, in guten Händen. Ehe der Musikrat da mitredet, muss er mit den Verantwortlichen sprechen und klären, ob öffentlicher Rat gewünscht wird. Gut für den DMR, dass die Rektorenkonferenz sich wieder zur Mitarbeit entschlossen hat!
Der Drehscheiben-Gedanke erfordert ein hohes Maß an Kommunikation unter den Mitgliedern. Eine der besten Taten des DMR in den letzten Jahren war sicherlich die Herausgabe der eigenen Zeitschrift Musikforum. Ein später Kranz dem oft unbequemen Jens Michow! Vielleicht können die Mitglieder das Organ noch stärker nutzen. Vielleicht fällt dem neuen Präsidium Neues ein?
Für eine kunstorientierte Gesellschaft
Deutschland und Österreich, die beiden Länder, in denen ich mein Berufsleben verbracht habe, gelten in der ganzen Welt als die bedeutendsten Länder der Musik. Das beruht auf den großen Komponisten, die diesem Kulturraum entstammen; aber auch auf gegenwärtigen Gegebenheiten: der Orchester- und Opernlandschaft, den Hochschulen und Musikuniversitäten, den Festspielen und Festivals (und, wenn man so will, eben auch auf dem Deutschen Musikrat mit allen seinen Ideen und Einrichtungen).
Aber es gibt zwischen den beiden Ländern einen großen Unterschied, der aus deutscher Sicht Anlass zur Sorge gibt. In Österreich ruht dieses System auf einer vergleichsweise stabilen gesellschaftlichen und politischen Wertschätzung; in Deutschland besteht es fort trotz einer spürbaren Gleichgültigkeit von Gesellschaft und Politik gegenüber der Kultur und den Kulturschaffenden.
In Österreich nimmt sich der Bundeskanzler gern die Kultur in sein Ressort, weil sie mit besonderem Ansehen verbunden ist; zieht ein Landeshauptmann (Ministerpräsident) in die Wahl mit dem Slogan „Kultur ist teuer – Unkultur ist noch viel teurer“ – und gewinnt! Im deutschen Wahlkampf waren Bildung und vor allem Kultur zum wiederholten Mal absolut kein Thema.
Wie unerfreulich und auch gefährlich diese Lage für die Kunst, die Künstler und die Gesellschaft ist, braucht den Lesern dieser Zeitung nicht dargelegt zu werden. Hier auf eine Veränderung – die man sich nur sehr allmählich vorstellen kann – hin zu arbeiten, ist die wichtigste aller Aufgaben des DMR. Leider auch die schwierigste. Öffentliche Klage des Musikrats über zu wenig politisches Interesse und mangelnde Unterstützung würde so wenig überraschen wie die Klage des Bauernverbandes über die Milchpreise und nichts bewirken. Das Feld muss mit sehr viel Fantasie, strategischem Geschick und Beharrlichkeit bearbeitet werden.
Dazu braucht der Musikrat Verbündete, die helfen, dem Thema mehr Raum in den Medien und in der Politik zu verschaffen. Es gibt Musiker wie Kurt Masur oder Daniel Barenboim, die Deutschland eng verbunden sind und ihre künstlerische Arbeit immer in politische Zusammenhänge gestellt haben. Sie kennen und teilen die Sorgen und werden bereit sein, den Musikrat mit ihrer Stimme zu unterstützen – laden wir sie dazu ein.
Es sind dicke Bretter zu bohren – auch vom nächsten Präsidium des DMR. Rückschläge und Krisen sind eingeschlossen. Aber dann braucht man nur einmal vorbei zu schauen: bei Jugend musiziert oder im Pop Camp, beim Deutschen Chorwettbewerb oder beim Dirigentenforum und wird es sofort spüren: die Arbeit lohnt sich!