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Das Neue im Blick: Georg Riedmann. Foto: C. Oswald
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Neue Musik für jeden verfügbar machen

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Georg Riedmann, Vorsitzender des Vereins Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg, im Gespräch:
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„Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Mit diesem Slogan hat Baden-Württemberg vor einigen Jahren zunächst für Aufsehen, dann einen kurzen Moment für Spott und seither für zustimmendes, neidisches Nicken gesorgt. Hier werden nicht nur gute Ideen produziert, sie finden auch in sehr vielen Fällen breiteste und vor allem staatliche Unterstützung. Im Juli 2012 wurde das Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg e.V. gegründet. Die Baden-Württemberg Stiftung leistete dazu eine Anschubfinanzierung. Georg Riedmann, ehemals Geiger im Basler Sinfonieorchester und heute Kulturmanager, ist seit 2003 in Donaueschingen Leiter im Amt für Kultur, Tourismus und Marketing und Geschäftsführer der „Gesellschaft der Musikfreunde Donaueschingen“, der juristischen Trägerin der Donaueschinger Musiktage. Im neu gegründeten Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg gehört er seit Januar 2013 dem Vorstand an. Für die neue musikzeitung sprach Susanne Fließ mit Georg Riedmann.

neue musikzeitung: Herr Riedmann, „Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg“, die Bezeichnung des noch jungen Vereins, kommt einem bekannt vor. Was ist neu an dieser südlichen Variante der ehemaligen bundesweiten Initiative?

Georg Riedmann: Die Initiative zu dieser Neugründung ist ziemlich genau zwei Jahre alt. Just zu diesem Moment, Ende 2011, war das grandiose Modellprojekt „Netzwerk Neue Musik“ der Kulturstiftung des Bundes ausgelaufen. Das vom Bund geförderte Netzwerk hatte gerade in Baden-Württemberg einige beispielgebende Projekte ermöglicht, zum einen das „Netzwerk Süd“ mit Sitz in Stuttgart und zum anderen in „mehrklang Freiburg“. Diese beiden Leuchtturm-Projekte hat man in Baden-Württemberg landesweit wahrgenommen, weil sie nicht nur lokal arbeiteten, sondern den Anspruch hatten, landesweite Aktionen und Vermittlungsprojekte zu lancieren.

So trafen sich Hans-Martin Werner, Referent für Schulmusik im Kultusministerium Baden-Württemberg, Daniela Schneider, Musikreferentin in der Kunstabteilung des Wissenschaftsministeriums Baden-Württemberg, und formulierten mit Christine Fischer, Intendantin von „Musik der Jahrhunderte“, Empfehlungen, wie Neue Musik und ihre Vermittlung besser in Baden-Württemberg verankert werden könne. Es begann also mit drei Personen, die vom Erfolg der beiden vorausgegangenen Projekte überzeugt waren und sie in Baden-Württemberg fortsetzen und implementieren wollten.

nmz: Welche Aufgabe haben Sie im neuen Netzwerk übernommen?

Riedmann: Ich bin angesprochen worden, ob ich bereit wäre, die Gründung des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg aktiv mitzugestalten. Geehrt durch dieses Vertrauen, aber vor allem auch motiviert durch die persönliche Überzeugung, dass der Weg richtig und notwendig ist, habe ich mich gerne dazu bereit erklärt und bin in der Gründungsversammlung im vergangenen Juli zum Vorsitzenden des Vereins gewählt worden. Gemeinsam mit einem tollen Vorstandsteam und vielen engagierten Mitgliedern des Netzwerks haben wir in den vergangenen knapp acht Monaten wichtige erste Schritte getan.

nmz: Nun ist Baden-Württemberg nicht eben arm an Neue-Musik-Initiativen und -Festivals. Wozu braucht es einen weiteren Verein für Neue Musik?

Riedmann: Sowohl Stuttgart als auch Freiburg hatten vor der Initiative des Bundes – neben anderen Städten wie Heidelberg und Karlsruhe – eine höchst lebendige Neue-Musik-Szene. Da hat man sich aber eher mit sich selbst und dem direkten kulturellen Umfeld beschäftigt. Mit der Initiative des Bundes fand man sich erstmals mit anderen Partnern zusammen, um gemeinsam Vermittlungsprojekte auf den Weg zu bringen. Und darin besteht nun auch die Kernidee des Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg, nämlich den Zusammenschluss aller Parteien und Teilnehmer zu ermöglichen, um die Kompetenzen zu bündeln; seien es Veranstalter, Produzenten, Interpreten, Künstler und insbesondere Ausbildungseinrichtungen. Nun soll der übergeordnete Netzwerkgedanke im Vordergrund stehen.

nmz: Können Sie den Netzwerkgedanken etwas genauer skizzieren?

Riedmann: Natürlich hat jedes einzelne Projekt den Wunsch, den eigenen Konzertsaal zu füllen. Auch im Falle des Netzwerks Neue Musik wird keiner der beteiligten Partner deshalb seine eigenen Ziele aus den Augen verlieren, aber allen ist die Absicht gemeinsam, ein Kompetenzzentrum zu etablieren, um Neue Musik in Baden-Württemberg nachhaltig zu verankern. Die am Verein beteiligten Einrichtungen stellen damit ihr Know-how in den Dienst einer gemeinsamen Vision.

nmz:Was haben Sie konkret vor zu tun?

Riedmann: Ein paar Ideen gibt es bereits. Dazu muss man ein wenig in die Vergangenheit zurückblicken. In den 60er- und 70er-Jahren war Neue Musik eigentlich ein selbstverständlicher Bestandteil des Kulturlebens. Aber: Sie war Teil des Kulturlebens einer relativ in sich geschlossenen, bürgerlich-intellektuellen Schicht. Seinerzeit war man möglicherweise gar nicht so unglücklich über diese Tatsache. Da spielten die Erfahrungen aus der Zeit des Nazi-Terrors eine Rolle, die Autonomie der Kunst nicht mehr gefährden zu wollen. Man begnügte sich mit einem geschlossenen Zirkel „Verständiger“.

Das galt im Übrigen für alle Richtungen moderner Kunst. Als Hilmar Hoffmann in den 70er-Jahren dann entgegen diesen Gepflogenheiten die „Kunst für alle“ propagierte, revolutionierte er damit den kompletten Kulturbetrieb, auch im ländlichen und kommunalen Raum. Plötzlich galt alles als „Kultur“.

Dieser Kulturbegriff wurde bis in unsere Tage fortgeschrieben. Heute bekommt das „Dschungelcamp“ den Grimme-Preis, etwas, das vor 15 Jahren nur wirklich herausragenden Fernsehformaten vorbehalten war. Auch die Neue Musik musste sich diesem „Kulturmarkt“ aussetzen, und der Ehrgeiz wurde spürbar, sich nicht noch länger in seinem Elfenbeinturm aufzuhalten. Aber statt sich nur passiv einer Marktbewertung auszusetzen, ist das erklärte Ziel, selbstverständlicher Bestandteil des Musiklebens zu werden.

nmz: Die Quote definiert die Qualität?

Riedmann:Ich glaube weder, dass die Menge an Publikum ein Qualitätsmerkmal sein kann noch jemals sein wird. Aus meiner Sicht ist das Verfügbarmachen von Neuer Musik für jeden Interessenten das eigentliche Ziel, und da gibt es eine gewaltige Menge nachzuarbeiten. Um diese Verfügbarkeit zu erreichen, ist es entscheidend, dass wir nicht nur Vermittlungsprojekte initiieren, sondern dass wir an die Institutionen heran gehen, die die Vermittler der Zukunft ausbilden. Also die Pädagogischen Hochschulen, die Musikhochschulen und die Kirchenmusikschulen, denn die Implementierung der Neuen Musik muss natürlich bei den Menschen beginnen, die in den nächsten Jahrzehnten den Kulturbegriff bei der Jugend prägen werden.

So wie die Neue Musik zu jeder Zeit ihre Förderer hatte und ihr Existenzrecht unbestritten ist, so gibt es auch einen politischen Rückhalt dafür, das Thema in den Fokus zu rücken. Die Initiative ist ja aus zwei Baden-Württemberg Ministerien hervor gegangen. Wir spürten vom ersten Moment, bis in den Januar 2013, als die Zuwendungen genehmigt wurden: Es gibt in Baden-Württemberg einen Grundkonsens darüber, dass diese Initiative und alle damit verbundenen Maßnahmen existentiell wichtig sind.

nmz: Die Education-Programme großer Klangkörper oder großer Festivals zielen ja auch seit vielen Jahren auf die Vermittlung Neuer Musik ab. Zeigen solche Aktivitäten denn nicht schon ausreichende Wirkung auf die junge Generation?

Riedmann: In den zehn Jahren, in denen ich Leiter der Abteilung Kultur, Tourismus und Marketing in Donaueschingen bin, hatten wir sechs oder sieben Projekte mit Grundschulen im Bereich Neue Musik. Ich traf in dem Zusammenhang auf engagierte Pädagogen. Aber: Es war immer nur eine Handvoll, die sich intensiv und seit vielen Jahren mit der Thematik Neue Musik auseinandersetzte. Von deren individueller engagierter Vermittlungsleistung profitieren Donaueschingen und viele andere auf das Neue fokussierte  Festivals. Es soll aber nicht dem Engagement einzelner aufgebürdet werden. Es soll nicht nur eine Handvoll Lehrer bleiben und nicht auf den Schultern einzelner lasten, sondern zu einer selbstverständlichen Arbeit verstreut über das ganze Land werden.

nmz: Das klingt nach einem sehr langfristig angelegten Plan.

Riedmann: Die Zukunft des Projektes dauert nach meiner Einschätzung in der Tat jedenfalls so lang, bis der Zustand der Selbstverständlichkeit erreicht ist. Der eindeutige Vorteil bei Vermittlungsprojekten in diesem Bereich liegt darin, dass das Neue nicht durch einen Kanon sanktioniert ist. Viele Vermittlungsprojekte setzen erst dort an, wo die Zielgruppe bereits wichtiges Grundlagenwissen mitbringt. Zum Beispiel planen die Berliner Philharmoniker demnächst die Aufführung einer Kinderoper von Britten und suchten dazu Kinder für den Chor und das Orchester. Wer mitspielen will, muss aber mindestens drei Jahre Instrumentalerfahrung haben. Wir dagegen gehen die Vermittlung beispielsweise im Rahmen der Donaueschinger Musiktage ohne jede Voraussetzung an: Ein Pädagoge erarbeitet mit einer Schulklasse das Thema „Klang“. Ob die Klasse singt oder Klanginstrumente bastelt, oder ob man gemeinsam durch den Wald streift und Klänge erlebt, hat mit musikalischer Vorbildung nichts zu tun. Wir fangen bei den Kindern buchstäblich bei Null an, ein wunderbarer Urzustand und beste Voraussetzungen für Neue Musik. Meine eigene Erfahrung in Donaueschingen ist auch, dass musikalisch vorgebildete Menschen, die mit Neuer Musik nichts am Hut haben, sich deutlich schwerer tun, wenn sie Konzerte mit Neuer Musik anhören als Menschen, die musikalisch nicht sozialisiert sind. Ich erlebe sie als aufmerksam und neugierig: Wo entdeckt man ein Thema, wo wiederholt sich eine Phrase? Kann man eine Struktur entdecken, ein Muster, gibt es einen musikalischen Höhepunkt? Im Gegensatz dazu wird derjenige, der abends mit seinen Freunden Beethoven-Streichquartette spielt, immer versuchen, sich an dem, was er kennt, festzuhalten. Er tut sich deswegen so wahnsinnig schwer, diese neue Klangwelt zu erfassen.

nmz: Hat das Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg als Zielgruppe vor allem Kinder im Auge?

Riedmann: In keiner anderen Altersgruppe erfolgt die Annäherung an Neue Musik so unvoreingenommen und nicht vorgeprägt. Durch die Vermittlungsarbeit bei Kindern und Jugendlichen kann das notwendige Fundament zum selbstverständlichen Umgang mit Neuer Musik in der Zukunft gelegt werden.

nmz: Sind Sie da nicht ein wenig in der Falle, gefällige, effektvolle, eingängige Musik anbieten müssen, um Kinder dauerhaft zu interessieren und bei der Stange zu halten?

Riedmann: Der Plan des Netzwerk Neue Musik soll ja zunächst „lediglich“ die Grundlagen für Vermittlungsprojekte schaffen. Im Übrigen machen Vermittlungsprojekte ja nicht vor komplexen Strukturen halt! Wenn Menschen offen und unvoreingenommen auf Neue Musik eingehen, dann haben wir eine gute Arbeit gemacht. Am Ende dieser Arbeit werden die Hörerinnen und Hörer auch kritische Rezipienten sein. Die Baden-Württemberg Stiftung, eine Institution, eine operative Stiftung zum Wohlergehen ihrer Bürger, leistet im Netzwerk Neue Musik zu einem wesentlichen Anteil finanzielle Hilfe. Das kann einen als Bewohner eines anderen Bundeslandes fast bisschen neidisch machen. Es ist auf jeden Fall ein riesiger Vertrauensvorschuss, den wir mit dieser Unterstützung in Höhe von 300.000 Euro erhalten haben. Denn das Netzwerk Neue Musik gibt es erst seit sechs Monaten und hat noch keinen Leistungsnachweis erbracht, nur Konzepte, Pläne und Ideen. Zwar sind wir gut vorbereitet in die Aufsichtsratssitzung gegangen.

Dennoch hat uns sehr gefreut, die positiven Signale aller Fraktionen zur Förderung unserer Netzwerkpläne zu spüren. Darum sitzen wir nun ambitioniert in den Startlöchern und wollen schon in einigen Monaten erste Berichte und Zwischenbilanzen abliefern, um zu beweisen, dass wir das Vertrauen wert sind. Bei dem Betrag der Baden-Württemberg Stiftung handelt es sich um eine Anschubfinanzierung für zunächst ein Jahr, aber wir wollen, dass es danach weiter geht, denn ein Strohfeuer wäre ja natürlich genau das Gegenteil dessen, was wir uns zur Aufgabe gemacht haben.

nmz: Welches Kommunikationspaket haben Sie geschnürt, um bei den Ausbildungsinstitutionen Interesse für das Netzwerk zu wecken?

Riedmann: Als erstes ist es nötig, eine Geschäftsführung einzusetzen. Die Stelle ist bereits ausgeschrieben. Da das Netzwerk Neue Musik jung und neu ist, ist es nötig, sich bekannt zu machen. Es steht also bei den diversen Ausbildungsinstitutionen eine Reihe von Besuchen an. Darüber hinaus werden wir als zweiten Schritt intensive Gespräche mit dem Landesmusikrat suchen und mit anderen Musikverbänden in Baden-Württemberg.
nmz: Wie bereitwillig wird man Ihnen die Türen öffnen?
Riedmann: Ich gehe davon aus, dass das Interesse groß ist. Aber ich hoffe, dass man vor allem über den Ausbildungs- und Netzwerkgedanken mit uns spricht und uns nicht ausschließlich als neue Geldquelle für neue Projekte wahrnimmt. Das ist ein bisschen die Gefahr.
Bei etwaigen Fördervergaben, die wir ja auch veranlassen, soll die Jury des Netzwerks akribisch prüfen, ob sowohl ein Fortbildung- als auch ein Vermittlungsgedanke dahintersteckt, der Nachhaltigkeit verspricht und nicht nur Eintagsfliegen.

nmz: Wer ist die Jury?

Riedmann: Sie besteht aus fünf Personen des Vereins. Aber die Jury darf man sich nicht als festes Gremium vorstellen. Für jede Fördermittelvergabe berät sie in neuer Zusammensetzung. Zwei bis drei Jurymitglieder aus dem vorigen Gremium verbleiben, zwei oder drei neue Fachleute kommen hinzu. Damit ist einerseits Kontinuität garantiert, andererseits gerät so jedes Jurymitglied in die Situation, neue und unbekannte Projekte prüfen zu müssen. Man ist also nicht nur Mitglied in dem Verein, um eigene Projekte realisieren zu können, sondern auch, um fremde Projekte zu evaluieren. Die Satzung sieht jedoch auch vor, dass die Jury mal aus Mitgliedern des Netzwerks bestehen kann, aber auch durchaus aus externen Personen.

nmz: Am 16. April wird die Jury erstmals über eingereichte Projekte entscheiden. Liegen Ihnen schon welche vor?

Riedmann: Noch nicht, aber die Ausschreibung wurde ja auch erst vor wenigen Tagen publiziert. In der ersten Tranche haben wir von den zur Verfügung stehenden 300.000 Euro 100.000 Euro an Fördermitteln ausgeschrieben, ein Teil der Zuwendung ist für die laufenden Kos-
ten in der Geschäftsstelle gedacht und einen weiteren Teil haben wir zunächst zurückgelegt. Sobald wir die Gewissheit haben, dass wir 2014 eine stabile Finanzierung hinbekommen, werden wir im Herbst dieses Jahrs eine zweite Förderausschreibung für 2013 veröffentlichen.

nmz: Wer kann sich um eine Projektförderung bewerben?

Riedmann: Im Prinzip kann das jeder, dessen Musikprojekt Nachhaltigkeit und neue Impulse verspricht. Wichtig ist aber, dass das Projekt in Baden-Württemberg realisiert wird.

Das Gespräch führte Susanne Fließ

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