Anfang Juni trat die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) zu ihrer Sommertagung in Weimar zusammen. Auf der Agenda standen dabei unter anderem die Themen Künstlerische Forschung, Personalentwicklungskonzepte und die Frage nach der sozialen Verantwortung der Musikhochschulen. Nach den Vorgängen in München – der ehemalige HochschulPräsident Siegfried Mauser war in erster Instanz wegen sexueller Nötigung verurteilt worden – stellte sich das Gremium aber natürlich auch den Fragen an die Institution Musikhochschule, die sich daraus ergeben. Mit Martin Ullrich, dem Vorsitzenden der RKM und Präsidenten der Hochschule für Musik Nürnberg, sprach nmz-Chefredakteur Juan Martin Koch.
neue musikzeitung: Im Zusammenhang mit den Diskussionen in Baden-Württemberg rückte das Thema Absolventenverbleib in den Fokus. Was hat sich seither an den Musikhochschulen getan?
Martin Ullrich: Es gibt an unseren Musikhochschulen auf dezentraler Ebene sehr viel Wissen über den Verbleib der Absolventen/-innen, die meisten Hauptfachlehrenden halten nach dem Abschluss den Kontakt zu den ehemaligen Studierenden. Für uns ist es aber eine große Herausforderung, dieses verteilte und informelle Wissen durch eine zentrale und formalisierte Erfassung zu ergänzen. Wir haben uns inzwischen klar gemacht, dass der erste Schritt der schwierigste ist: Wir müssen Alumni-Netzwerke aufbauen, damit wir systematische Befragungen datenschutzgerecht durchführen können. Es ist leider so, dass die dafür notwendigen zusätzlichen Ressourcen in den Hochschulverwaltungen von der Politik noch gar nicht in unsere Haushalte eingepreist sind. Dennoch unternehmen wir seit Jahren erhebliche Anstrengungen, um solche Befragungen durchzuführen. Das Netzwerk der Musikhochschulen im Qualitätspakt Lehre beschäftigt sich seit der Erstantragsstellung vor mehr als fünf Jahren mit dem Thema, und es gibt auch Vorhaben auf der Ebene der einzelnen Bundesländer. Ich hoffe, dass wir bald erste Studien vorliegen haben werden. Wichtig ist, dass wir bei der Konzeption mit erfahrenen Partnern zusammenarbeiten. Für Bayern kann ich sagen, dass die drei Musikhochschulen in diesem Zusammenhang im Gespräch mit dem Staatlichen Institut für Hochschulforschung sind.
nmz: Eine weiteres Thema der letzten Zeit war der dritte Studienzyklus …
Ullrich: Die Frage lautet ja: Wie positionieren sich die Musikhochschulen oberhalb der Masterebene, auf dem Doktoratslevel? Da passiert im Augenblick sehr viel. Aus unserer Sicht geht es hier um eine sinnvolle Diversität, die wir am Ende anstreben. Wir sehen, dass immer mehr Musikhochschulen ihr wissenschaftliches Promotionsrecht ausüben – in Musikwissenschaft, Musikpädagogik, teilweise auch in Musiktheorie – und kommen nun mit einer politischen Kernforderung auf die Zielgerade: Dass im Qualifikationsrahmen für Deutsche Hochschulabschlüsse, im so genannten HQR, neben den wissenschaftlichen Promotionen auch die künstlerischen Formate wie Meisterklasse oder Soloklasse auf der Doktoratsebene als gleichwertig benannt und anerkannt werden. Ich bin sehr glücklich, dass die Hochschulrektorenkonferenz den HQR jetzt in diesem Sinne überarbeitet und einstimmig beschlossen hat. Ich gehe zuversichtlich davon aus, dass die Kultusministerkonferenz sich diese neue Fassung nun auch ohne Änderung zu eigen machen wird. Das wäre ein ganz wichtiger Schritt, damit dieser künstlerische dritte Zyk-lus auch politisch auf Dauer abgesichert ist.
Künstlerische Forschung, Personalentwicklung
nmz: Damit hängt auch die Entwicklung von künstlerischer Forschung zusammen, über die nun bei der Sommertagung der RKM diskutiert wurde.
Ullrich: Es gibt ja zum Beispiel einen mit künstlerischen Anteilen angereicherten Dr. phil. in Baden-Württemberg. Ich denke, dass da in nächster Zeit weitere Modelle hinzukommen werden. Uns ist bei der Sommerkonferenz in Weimar klar geworden, dass der inhaltliche Austausch über künstlerische Forschung eine Plattform braucht. Ich habe mich sehr gefreut, dass unsere Partnerkonferenzen aus der Schweiz und aus Österreich, deren Vorsitzende bei uns zu Gast waren, da großes Interesse signalisiert haben.
nmz: Welche konkreten Angebote wollen die Musikhochschulen zukünftig nach dem Master machen?
Ullrich: Eigentlich reden wir hier auch über das ganz große Thema der Personalentwicklung und der Förderung des künstlerischen Nachwuchses. Was wir anstreben, ist, dass es im Übergang vom Studium in den Beruf und in die akademische Karriere an Musikhochschulen eine Formatvielfalt gibt, die den unterschiedlichen berufsbiografischen Situationen gerecht wird. Ein gutes Modell aus meiner persönlichen Sicht wären Graduiertenschulen, in denen sich Künstler/-innen mit Wissenschaftlern/-innen treffen und austauschen, vielleicht auch Tandems bilden, also gemeinsam künstlerisch-wissenschaftlich forschen. Wir wollen aber auch befristete Qualifikationsstellen entwickeln, also Assistenz- oder Mitarbeiterstellen und Juniorprofessuren, wie sie die wissenschaftlichen Universitäten haben. Wir wollen nicht bei der Situation stehen bleiben, wo all das in Lehraufträge verpackt werden muss.
nmz: Haben Sie bei der Tagung auch darüber gesprochen, wie die Musikhochschulen mit flüchtenden Menschen umgehen?
Ullrich: Diese Frage spielt für uns alle eine wichtige Rolle, die Antworten und Angebote sind ganz vielfältig: Es gibt Willkommenskonzerte, Unterrichtsangebote, Instrumentenspenden und -leihgaben, bis hin zur Integration Geflüchteter in Hochschulprojekte und Gaststudiumsformate. Wir sehen dieses Engagement im Gesamtkontext der gesellschaftlichen Verantwortung der Musikhochschulen, die wir in Weimar noch einmal sehr intensiv diskutiert haben. Wir wollen eben keine Elfenbeintürme sein, sondern uns dieser Verantwortung auch stellen. Dabei bringen wir unsere interkulturelle Erfahrung der letzten Jahrzehnte ein.
nmz: Wie könnten mittel- und langfristige Konzepte aussehen?
Ullrich: Die Entwicklung hin zu einer dialogorientierten Interkulturalität wird uns mittelfristig eine gewisse Veränderungsbereitschaft abverlangen. Man denke nur an die Frage, inwiefern Instrumente, die nicht aus der mitteleuropäischen Tradition kommen, in Studiengänge integriert werden können, zum Beispiel ob Schulmusik mit dem Hauptfach Baglama studiert werden kann. Unsere ständigen Ausschüsse für Schulmusik einerseits und für künstlerisch-pädagogische Studiengänge andererseits machen sich da schon erste Gedanken.
Sexuelle Belästigung
nmz: Welche Rolle haben die Vorgänge an der Münchner Musikhochschule gespielt, deren ehemaliger Präsident in erster Instanz wegen sexueller Nötigung verurteilt worden ist und Berufung eingelegt hat?
Ullrich: Zu den konkreten Vorgängen in München möchte ich mich nicht äußern. Wir diskutieren in der RKM auch keine Einzelfälle. Die sachliche Problematik von sexueller Belästigung im Hochschulkontext war schon in den vergangenen Jahren Thema, zum Beispiel haben wir die verschiedenen Richtlinien, die die einzelnen Hochschulen gegen sexuelle Belästigung erlassen haben, in der RKM und im Dialog mit externen Ansprechpartnern/-innen, darunter die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, gesammelt und miteinander verglichen. Bei der diesjährigen Tagung haben wir nun eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der Vertreter/-innen von Hochschulleitungen und Studierenden gemeinsam mit externen Experten/-innen einheitliche Richtlinien entwerfen werden. Wir wollen neben allgemeinen Fragen von Schutz und Prävention die Aspekte berücksichtigen, die besonders die Musikhochschulen betreffen: Wie gehen wir mit der Situation des künstlerischen Einzelunterrichts angemessen um? Das steht seit jeher im Fokus der Hochschulleitungen. Wie geht man mit den vielfältigen interkulturellen Begegnungen um, die ja auch mögliche Kommunikationshindernisse und -fehler in sich bergen? Und wie geht man mit dem Thema Machtmissbrauch in einem ganz allgemeinen Sinn um? Denn es kann nicht nur um sexualisierte Gewalt gehen.
nmz: Welche Aspekte konnte die Antidiskriminierungsbeauftragte einbringen?
Ullrich: Man würde ja davon ausgehen, dass Studierende besonders gut geschützt sein müssten. Insofern waren wir sehr überrascht über ihren Hinweis, dass aufgrund der derzeit existierenden Antidiskriminierungsgesetze Bedienstete an den Universitäten und Hochschulen – verglichen mit der allgemeinen Alltagssituation – bereits einen besonderen Schutz vor sexueller Belästigung genießen, dass die Studierenden von diesem Schutz aber noch nicht erfasst werden. Hier besteht eine echte Lücke. Da gibt es in diesem komplexen Thema vieles aufzuarbeiten. Wir verfolgen ja auch die allgemeine gesellschaftliche Diskussion, ob sexuelle Belästigung zu einem Offizialdelikt und damit strenger geahndet wird, als es im Moment der Fall ist. Das wird ja bislang ein Stück weit der subjektiven Empfindung der Betroffenen überlassen.
nmz: Wie gehen die Musikhochschulen bisher mit dem Thema um?
Ullrich: Die Richtlinien der Musikhochschulen nennen schon ein ganzes Portfolio von Ansprechpartnern/-innen. Es ist ganz wichtig, dass es da eine große Bandbreite gibt, weil es je nach Situation sinnvoll sein kann, sich an die Frauenbeauftragte, an die Hochschulleitung, an die Studierendenvertretung oder eben auch an eine externe Stelle zu wenden. Den einen Königsweg zur Prävention und gegebenenfalls auch für Sanktionen gibt es nicht. Man muss die institutionelle Kultur entwickeln und pflegen, die im Kern eine Kultur des Vertrauens ist. Studierende und alle Hochschulangehörigen müssen jedes Gefühl der Belästigung frühzeitig offen ansprechen können. Für die juristischen Tatbestände braucht man natürlich klare Schutzmechanismen. Wo es justiziabel wird, da endet ja auch die Zugriffsmöglichkeit der Hochschulleitung.
nmz: Gibt es konkrete Fallzahlen aus den Hochschulen?
Ullrich: Nein.
nmz: Ist von einer Dunkelziffer auszugehen?
Ullrich: Unser Eindruck in der RKM ist nicht der, dass wir von ganz vielen „unentdeckten“ Fällen ausgehen müssen, sondern dass wir die Prävention und den Abbau von bestimmten Macht- und Hierarchieverhältnissen vorantreiben müssen, um es gar nicht so weit kommen zu lassen.
nmz: Was heißt das konkret?
Ullrich: Das würde bedeuten, dass wir ein institutionelles Klima, eine Grundmelodie an den Musikhochschulen erzeugen und absichern, in der gerade Studierende ein Unbehagen, ein Belästigungsgefühl jederzeit offen ansprechen können; in der frühzeitig alle Beteiligten dafür sensibilisiert sind, dass es Situationen geben kann, die von einer/m Beteiligten als Grenz-überschreitung empfunden werden, von der anderen Seite aber gar nicht reflektiert sind. Dem wollen wir möglichst zuvorkommen.
nmz: Welche Ziele hat sich die neue Arbeitsgruppe der RKM gesetzt?
Ullrich: Vereinfacht ausgedrückt haben wir gesehen, dass wir hervorragende Richt- und Leitlinien haben. Nun wollen wir einen Prozess in Gang bringen, damit diese auch gelebter Alltag werden, das ist die große Herausforderung. Ich denke, dass auch ganz neue Ideen entstehen werden, auf welchen Kommunikationskanälen und in welchen Formaten wir Schutz und Prävention weiterentwickeln können. Dazu gehört auch ein offener, transparenter Umgang mit den Medien. Es darf nicht der Eindruck entstehen, das Thema werde bei den Musikhochschulen unter den Teppich gekehrt werden.
nmz: Dennoch wurde in der Pressemitteilung nach Abschluss der Sommertagung nicht auf das Thema eingegangen …
Ullrich: Wir halten es für richtig, zunächst substanzielle Ergebnisse in der Arbeitsgruppe zu erzielen und diese dann den Medien und der Öffentlichkeit zu kommunizieren.
nmz: Welche weiteren Themen wurden bei der Sommertagung besprochen?
Ullrich: Ein wichtiges Thema ist die Digitalisierung an den Musikhochschulen, dazu wird es ein weiteres Treffen in Detmold geben. Wir haben außerdem die Weiterentwicklung der Hochschulwettbewerbe in Angriff genommen. Wir planen für den nächsten Felix Mendelssohn Bartholdy Hochschulwettbewerb 2017 und haben dem Hochschulwettbewerb Musikpädagogik eine eigene Satzung gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt, weil – zusätzlich zum Verband deutscher Musikschulen – mit dem Bundesverband Musikunterricht ein neuer Partner hinzugekommen ist. Der Wettbewerb wird sich vergrößern, hat eine feste Geschäftsstelle in Köln erhalten und ist nun auch ganz dezidiert für Studierende der Lehramtsstudiengänge geöffnet, in Ausnahmefällen auch für Studierende aus rein künstlerischen Studiengängen, die mit geeigneten Projekten teilnehmen. Desweiteren möchte ich unsere Forderung, die wir gemeinsam mit der HRK und auch auf europäischer Ebene erheben, noch einmal ganz vernehmlich stellen: Bildung und Kultur müssen aus den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und TiSA ausgenommen werden. Es darf keine vollkommene Ökonomisierung der Kunst geben. Natürlich haben wir uns auch intensiv eingebracht in die Diskussion um die skandalöse Idee, das European Union Youth Orchestra nicht mehr weiter zu fördern. Diese Freiheitsräume muss es weiter geben, auch dafür steht die RKM.
Lesen Sie auch das Interview mit dem Münchner Musikhochschulpräsidenten Bernd Redmann auf Seite 28.