Seit einem Vierteljahrhundert steht Gerald Mertens als Jurist im Dienst der Deutschen Orchestervereinigung e. V. (DOV), seit Januar 2001 als deren Geschäftsführer. Geboren 1959 in Lübeck absolvierte Mertens zwischen 1980 und 1986 ein Studium der Rechtswissenschaften sowie eine Kirchenmusikausbildung. Er ist Gesellschaftervertreter der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mbH (GVL), Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Orchester-Stiftung und seit 2007 Vorsitzender des Vereins „netzwerk junge ohren“.
neue musikzeitung: Die Deutsche Orchestervereinigung ist sowohl ein Berufsverband als auch eine Gewerkschaft für Orchestermusiker. Wagen Sie doch für uns einen persönlichen Rückblick auf 25 kulturpolitisch sicher nicht ganz einfache Jahre für und mit der DOV.
Gerald Mertens: Ich betrachte die Entwicklung der letzten 25 Jahre mit einem positiven und einem negativen Gefühl. Positiv: Es ist gelungen, die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zu sichern. Es gibt zwar viele Baustellen, aber wir haben sehr viele Planken eingezogen. Negativ: In diesen 25 Jahren sind viele Profiensembles, namentlich aus den Neuen Bundesländern, vereinzelt in den Alten Bundesländern, auf der Strecke geblieben. Wenn man sieht, wie ein Ensemble aufgelöst wird, wie Musiker ihre Arbeitsplätze verlieren, dann ist das schmerzlich. Wir sind in dieser Zeit von 168 Ensembles bei der ersten gesamtdeutschen Erfassung im Jahr 1992 auf 131 runter. Ein weiterer schmerzlicher Punkt ist die Fusion des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg mit dem SWR Radiosinfonieorchester Stuttgart zum Ende der Saison 2016.
nmz: Ihre Tätigkeiten sind vielfältig. Sie sind als Jurist auf’s Tarifrecht spezialisiert, Sie sind Kulturpolitiker, haben etliche Ehrenämter und haben viele Projekte angestoßen. Wo steckt am meisten Engagement und Herzblut?
Mertens: Das größte Projekt war gewiss das „netzwerk junge ohren“, das wir gemeinsam mit der Jeunesses Musicales Deutschland (JMD) entwickelt haben. Der Kern waren Anfang 2002 die „Konzerte für Kinder“. Als dieses Projekt, da nicht länger öffentlich gefördert, auslief, haben der Jeunesses-Generalsekretär Ulrich Wüster und ich gesagt: „Es muss weitergehen“. Es war die Startphase des wachsenden Bewusstseins für Education und Musikvermittlung in den Orchestern und im gesamten öffentlich geförderten Orchesterbereich in Deutschland. So kam es Ende 2004 zur Gründung des „netzwerk junge ohren“ durch DOV und JMD, zusammen mit weiteren Verbänden, dem Bundesverband der Musikindustrie (BVMI), mit dem Deutschen Musikverlegerverband (DMV) und weiteren Unterstützern aus Österreich und der Schweiz. Das war eines der Highlights für mich. Ich bin von Anfang an Vorsitzender des Netzwerks und erst vor kurzem wiedergewählt worden. Ich freue mich, dass es im Vorstand mit Dieter Gorny vom BVMI und Ulrich Wüster von der JMD so gut funktioniert. Mit dem Junge Ohren Preis, der heute ein Standardpreis für Qualitätsentwicklung im Bereich der Musikvermittlung im deutschsprachigen Raum ist, haben wir Standards gesetzt. Dasselbe gilt beim von der Stiftung Georgs-
marienhütte in Osnabrück massiv geförderten YEAH-Award ebenso für den europäischen Raum.
Ganz aktuell ist das „netzwerk junge ohren“ verantwortlich für das Projekt „Kultur öffnet Welten“ von Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Es soll ab dem 21. Mai 2016 jeweils eine Woche lang beschreiben, wie eine Willkommenskultur auf neue gesellschaftliche Herausforderungen reagieren sollte. Hier freue ich mich, dass das Netzwerk damit nicht nur im fachlichen, sondern auch im politischen Bereich ganz oben angekommen ist.
nmz: Zwischen „Hurra wir leben noch und teilautonom und glücklich“: Inwiefern haben sich Orchester in den letzten 25 Jahren verändert?
Mertens: Viele Orchester hatten bis Anfang der 90er-Jahre noch das angestaubte Image der „99 geigenden Pinguine“. Etliche Orchester haben sich in den letzten 25 Jahren massiv verändert – und ich will das gar nicht an den Flaggschiffen wie den Berliner Philharmonikern festmachen, auch dort ist der Wandel ganz deutlich erkennbar. Das Rückgrat der deutschen Orchesterkultur sind jedoch vor allem die kleinen und mittleren Orchester in den Stadttheatern. Diese entwickeln heute ein neues Profil, das über das bloße Spielen von Konzert und Oper weit hinausgeht und ein vielfältiges Feld abdeckt vom Open Air Konzerten, Familienkonzerten, Konzerten für Schwangere und Stillende und, und, und …
Orchester haben heute ein ganz breites Portfolio: Eine neue Musikergeneration hat sich diesen gesellschaftlichen Herausforderungen ganz anders geöffnet und fragt sich immer öfter: Wie können wir für unsere Gemeinde, für unsere Community relevant sein? Nur Orchester, die relevant für ihre Stadtbevölkerung sind, die vernetzt sind, haben die Rechtfertigung, auf Dauer öffentlich gefördert zu werden. Dieser Konnex – was tun wir da und warum werden wir öffentlich gefördert –, dieses Bewusstsein ist wesentlich gestiegen. Viele Einrichtungen haben das begriffen, bei einigen ist immer noch Aufbauarbeit erforderlich.
nmz: Die DOV handelt für ihre Mitglieder Tarifverträge mit dem Deutschen Bühnenverein, den Rundfunkanstalten sowie einzelnen Arbeitgebern aus. Sie vertritt inzwischen aber auch die Musiker der freien Szene.
Mertens: Zunächst zum Tarifvertrag: Vertrag kommt von dem schönen deutschen Wort „vertragen“. Man redet auch von Tarifpartnerschaft. Am Ende des Tages muss man mit seinem Gegenüber zu einem guten Abschluss kommen und den Vertrag auch beidseitig unterzeichnen. Es gab in den vergangenen Jahren massive Tarifkonflikte, insbesondere in der Zeit zwischen 2004 und 2009, als der Flächentarifvertrag, der „Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern“, zwischen der DOV und dem Deutschen Bühnenverein neu verhandelt wurde. Da gab es massive Arbeitskämpfe der Orchester und größere Auseinandersetzungen. Zum 31. Oktober 2009 haben wir uns schließlich auf einen neuen Flächentarifvertrag verständigt, der die Veränderungen, die es im öffentlichen Dienstrecht gegeben hatte, auch auf den Orchesterbereich übertragen hat, und der spezifisch für den Orchesterbereich einige Flexibilisierungen auch im Bereich von Education, von Orchester-Patenschaften und bei neuen Aufführungsformaten vorgesehen hat.
Zum Bereich der freien Szene: Vor dem Hintergrund, dass längst nicht mehr alle Absolventen von Musikhochschulen, die ins Orchesterfach wollen, einen Arbeitsplatz bekommen, wird der Bereich der Freischaffenden immer größer. Aus den Statistiken der Künstlersozialkasse (KSK) sehen wir die Zahlen des Durchschnittseinkommens der Freischaffenden, das irgendwo zwischen 11.000 und 12.000 Euro im Jahr liegt. Hier ist ein großer Teil von gut ausgebildeten jungen Musikern im Prekariat: Sie halten sich mit hier ein bisschen Kammermusik, dort eine Aushilfe, da ein bisschen Unterrichten über Wasser. Diesen Bereich wollen wir stärker organisieren, um in der Öffentlichkeit, bei der Politik und auf dem Konzertmarkt ein stärkeres Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass Musik etwas wert ist. Auch ein Musiker, der mit seinem freien Orchester auftritt, muss angemessen vergütet werden.
nmz: Zu den freischaffenden Künstlern zählen auch viele Lehrbeauftragte. Hier hat sich die DOV stark engagiert...
Mertens: Ebenso wie die Freischaffenden Musiker sind die Lehrbeauftragten an den Musikhochschulen bei uns seit mehreren Jahren institutionell organsiert. Sie haben Delegierte gewählt, die beim Verband Sitz und Stimme haben, die ihre Interessen vertreten bis hinein in den Gesamtvorstand. Es gab im November 2014 einen sehr erfolgreichen, bundesweiten Aktionstag der Lehrbeauftragten, den wir maßgeblich mitorganisiert hatten. Ich habe in der Folgezeit sehr viele Gespräche im politischen Umfeld geführt: Mit Ministern, Staatssekretären und Verwaltungsbeamten, um die Situation der Lehrbeauftragten auf der Zuwendungsseite, also insbesondere der Ebene der Länder, zu thematisieren. Wir haben auch sehr viel mit Hochschulleitungen gesprochen. Wir haben schon einiges erreicht, aber die Themen der angemessenen Lehrbeauftragtenhonorare und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen stehen weiter auf der Tagesordnung.
nmz: Sie haben in 25 Jahren viele kontroverse Diskussion zum Thema Orchesterausbildung auch mit Vertretern der Musikhochschulen geführt. Geht die Ausbildung am Markt vorbei?
Mertens: Was man auf jeden Fall positiv herausstellen muss ist, dass der Dialog zwischen der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, dem Deutschen Bühnenverein, der Deutschen Orchestervereinigung und den Betroffenen selbst, also beispielsweise den Mitgliedern der Jungen Deutschen Philharmonie, massiv verbessert wurde. Wir haben im Januar 2015 in Köln ein entsprechendes Symposium durchgeführt: „Orchestermusiker/-in der Zukunft“. Aus diesem Symposium hat sich nun eine sehr intensive Arbeitsgruppendiskussion entwickelt, wo wir uns damit beschäftigen, wie sieht eigentlich das Anforderungsprofil für einen Orchestermusiker aus, wie muss ein Probespiel, womöglich auch mit Kammermusik oder anderen Elementen, zukünftig erfolgen, welche juristischen Voraussetzungen muss man schaffen, um kurzzeitige Erprobung zu ermöglichen und wie müssen sich dann Hochschulausbildungen auf diese neuen Anforderungen und Definitionen einstellen. Ich gehe davon aus, dass diese Ergebnisse in einigen Orchestern versuchsweise ausprobiert werden sollen, um dann ein bis eineinhalb Jahren zu sagen, es gibt ein verbessertes Verfahren und ein klareres Profil für die Auswahl und Erprobung neuer Orchestermitglieder.
nmz: Die DOV engagierte sich an der Demonstration gegen TTIP am 10. Oktober in Berlin …
Mertens: Der massive öffentliche Druck der Verbände, auch der DOV, hat dazu geführt, dass die Bundesregierung einen Tag vor der Demonstration eine Erklärung abgegeben hat, dass sie die Bedenken des Kulturbereichs ernst nimmt. Das ist ein sehr großer Erfolg für uns und die anderen beteiligten Gruppierungen. Ich habe in den vergangenen Monaten zahlreiche Gespräche mit MdEPs, MDBs, MDLs und Vertretern von politischen Stiftungen geführt und ein sehr breites Meinungsspektrum erfahren. Wir haben am 4. Mai in einer öffentlichen Kunstaktion in Mainz unsere „Ode an die Politik“ gerichtet, mit über 100 Musikern und Sängern. Als Videobotschaft sandten wir die Ode mit 400 Briefen an das EU-Parlament, an den Deutschen Bundestag, an die Landtage und an Spitzenverbände, beispielsweise an die deutsche Automobilindustrie. Auf diese 400 Briefe habe ich 150 Reaktionen bekommen. Die Diskussionen, die daraus entstanden, zeigen, wie wir die Politik inzwischen dafür sensibilisieren konnten, dass die Kultur, namentlich die öffentliche Kulturförderung, nicht zu einer Schramme an der Leitplanke des internationalen Freihandelsabkommens werden darf.
nmz: Würden Sie von einem Kulturauftrag der Orchester sprechen?
Mertens: Ich würde den Kulturauftrag gerne mit dem Oberbegriff Kulturelle Bildung versehen wollen. Das ist einer der großen Meta- oder Mega-Trends, insbesondere seit Abschluss des Berichts der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ 2007. Dass das Thema Kulturelle Bildung über so eine lange Zeit im Bewusstsein der breiten Politik, und nicht nur der Kulturpolitik, eine Rolle spielt, ist bemerkenswert. Gerade vor dem Hintergrund von Flüchtlingsdebatte, Integration und Interkultur können deutsche Orchester und Theater eine wichtige Rolle spielen.
nmz: Seit 2001 sind Sie zusätzlich zu Ihrer Aufgabe als Geschäftsführer der DOV auch Leitender Redakteur der Zeitschrift „das Orchester“ bei Schott Music, Mainz. Was sind Ihre Pläne als Blattmacher?
Mertens: „das Orchester“ soll noch magazinartiger und bunter werden und als das Leitmedium zur Festigung der kulturpolitischen „Lufthoheit“ im Bereich Orchesterkultur weiter ausgebaut werden. Das Magazin vertreiben wir in über 40 Ländern der Welt, was natürlich in erster Linie mit dem großen Stellenmarkt für den Bereich Orchester zusammenhängt. Wenn wir Leser-Reaktionen aus der ganzen Welt bekommen, etwa aus Russland oder Australien, dann zeigt das, wie weit „das Orchester“ als Leitmedium bereits verbreitet ist, und wie die klassische europäische Orchesterkultur in dieser Zeitschrift weltweit wahrgenommen wird.
nmz: Worin liegen die zukünftigen kulturpolitischen Herausforderungen für die Deutsche Orchestervereinigung?
Mertens: Die größte Herausforderung wird auch in Zukunft die nachhaltige Finanzierung von öffentlichen Kulturbetrieben, von Orchestern und Theatern sein. Wir haben das Spezialproblem, dass Orchester und Theater sehr personalintensive Betriebe sind. Das bedeutet, dass sie bei Personalkostensteigerungen eine wesentlich höhere Kostendynamik haben als andere Landes- oder städtische Betriebe. Dieses den Politiker immer wieder deutlich zu machen und für eine nachhaltige Finanzierung zu werben wird eine unserer Hauptaufgaben bleiben.
Das zweite Thema ist das der Relevanz: Orchester und Musiktheater müssen noch stärker daran arbeiten, ihre Relevanz für eine Stadtgesellschaft unter Beweis zu stellen, und zeigen, wo sie einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen. Wenn diese beiden Punkte zusammengehen, dann können wir davon ausgehen, dass es in Zukunft nicht nur kulturelle Leuchttürme, sondern auch weiterhin „kleinere Pflänzchen“ in der so genannten Provinz geben wird.
Das Gespräch führte Andreas Kolb