Die Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates hat am 18. Oktober 2014 im Berliner Abgeordnetenhaus einstimmig die Resolution „Veränderung braucht den Dialog. Aufruf für den Schutz und die Förderung der Kulturellen Vielfalt in Deutschland“ verabschiedet. Diese enthält einen 10-Punkte-Forderungskatalog an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel zu den internationalen Freihandels- und Dienstleistungsabkommen TTIP, CETA und TISA (siehe auch S. 6/7). Andreas Kolb sprach mit dem Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Christian Höppner, über die Gefahren, die von den geplanten Abkommen für die Musikkultur ausgehen.
neue musikzeitung: Seit mehreren Monaten warnt der Deutsche Musikrat vor den neuen Freihandelsabkommen CETA, TTIP und TISA. Worin liegt die Gefahr dieser Abkommen?
Christian Höppner: Diese Abkommen können den immer noch vorhandenen Reichtum kultureller Vielfalt in unserem Land nachhaltig einschränken, weil die rein wirtschaftliche Betrachtung bildungskultureller Investitionen etliche Angebote vom Markt fegen wird. Die Formel ist einfach: zwei oder mehr Marktteilnehmer = keine öffentliche Förderung. In der Logik von TTIP würde jede öffentliche Förderung eine Wettbewerbsverzerrung darstellen und wäre damit ein Fall für die internationalen Schiedsgerichte. So würden zum Beispiel die öffentlichen Mittel für die kommunalen Musikschulen eine Wettbewerbsverzerrung darstellen, sofern es einen privaten Anbieter gäbe. Damit würde das Miteinander von öffentlichen und privaten Angeboten – wie wir es derzeit haben – verhindert. Das trifft auch auf das duale Rundfunksystem in unserem Land zu. Das bedeutet im Klartext, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der essentieller Bestandteil unserer kulturellen Vielfalt ist, in seiner Existenz gefährdet wäre, zumal die USA den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als rein wirtschaftliches Telekommunikationsunternehmen und nicht als Teil des audio-visuellen Bereichs betrachten. Bildung und Kultur sind in unserem gesellschaftlichen Förderverständnis immer noch in erster Linie eine öffentliche Aufgabe, in öffentlicher Verantwortung und damit auch in überwiegend öffentlicher Finanzierung. Diese Verantwortungs- und Finanzierungspyramide wird durch die bisher bekannt gewordenen Verhandlungsergebnisse beziehungsweise Zielsetzungen auf den Kopf gestellt, weil der in der UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt definierte Doppelcharakter von Kultur, als Kultur- und als Wirtschaftsgut, ausgehebelt wird. Nicht nur der Deutsche Musikrat, sondern auch der Deutsche Kulturrat und viele weitere zivilgesellschaftliche Verbände, zum Beispiel aus dem Umwelt- und Verbraucherbereich, teilen diese Sorgen.
nmz: Momentan stehen verschieden Abkommen auf der politischen Agenda. Welches dieser Abkommen betrifft das Musikleben am meisten und warum?
Höppner: Freihandelsabkommen sind per se kein Teufelszeug, sondern können Handelshemmnisse abbauen, um die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern. Derzeit gibt es über 130 Freihandelsabkommen, ohne dass wir durch diese Abkommen unsere kulturelle Vielfalt gefährdet sehen. Bei TTIP & Co geht es aber um mehr. Das gemeinsame Ziel einer marktradikalen Liberalisierung und die zeitliche Nähe der drei Abkommen schaffen eine bisher nicht gekannte Herausforderung, die das Gleichgewicht von „global denken – regional handeln“ nachhaltig stören kann. Damit haben diese drei Abkommen das Potential, unmittelbar in das Lebensumfeld der Bürgerinnen und Bürger hineinzuwirken. Das betrifft die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft ebenso wie unser gesellschaftliches Selbstverständnis von Gemeinwohl und Daseinsvorsorge. TISA, das leider noch am wenigsten im Licht der Öffentlichkeit steht, sieht der Deutsche Musikrat, zumal in der zeitliche Nähe von CETA und TTIP, als die größte Herausforderung an. Das Ziel, die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, wird im „Kreis der guten Freunde“ in der australischen Botschaft in Genf geheim verhandelt. Da sich die großen Industrienationen in der Welthandelsorganisation WTO zunächst nicht mit diesem Verhandlungsziel durchsetzen konnten, haben sich die 23 Mitglieder, darunter auch die EU, darauf verständigt, diese Gespräche geheim und außerhalb jeglicher WTO-Strukturen zu führen – ein in der Geschichte der WTO beispielloser Vorgang.
Drohende Ökonomisierung
nmz: Was bedeutet das konkret für Musiker und Musiklehrer? Warum sind nicht nur private Anbieter, sondern auch der hoheitliche Bereich gefährdet?
Höppner: Die Liberalisierung der Märk-te macht weder vor den Kirchentüren, den Universitäten und Hochschulen, den kommunalen Musikschulen, den Musikvereinen, den Einrichtungen zur Fort- Aus- und Weiterbildung, den Stiftungen, den Orchestern, noch vor der Kulturwirtschaft, privaten Anbietern oder dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk halt. Kulturelle Dienstleistungen sind bereits jetzt bei den TTIP-Verhandlungen von hohem wirtschaftlichem Interesse. Das bedeutet, dass sich der einzelne Musiklehrer wie privatwirtschaftliche Bildungs- und Kultureinrichtungen auf ein erweitertes Wettbewerbsumfeld einstellen müssen. Wenn zum Beispiel ein global agierendes Franchiseunternehmen Musikunterricht anbietet, wird das Auswirkungen auf die Preisbildung wie auf die Angebotsvielfalt haben. Die Honorare für freie Musiklehrer werden sinken und die Angebotspalette wird sich auf die gewinnträchtigen Bereiche reduzieren. Das Ensemblemusizieren und die Fächervielfalt in den kommunalen Musikschulen beruhen auf dem öffentlichen Auftrag und wären dann in dieser Differenzierung und Qualität nicht mehr darstellbar, weil sich gerade diese gesellschaftspolitisch relevanten Bereiche des Bildungs- und Kulturauftrages nicht gewinnorientiert am Markt platzieren lassen. Ein klarer Verlust kultureller Vielfalt. Die Ökonomisierung des Denkens und Handelns in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen betrifft ganz wesentlich die Hochschulen und Universitäten, die bereits heute oft nur noch mit einer entsprechenden Drittmittelfinanzierung über die Runden kommen. Selbst für den hoheitlichen Bereich, wie zum Beispiel die allgemeinbildenden Schulen, sind Erosionen nicht mehr Fantasie. Der Boom der Privatschulen oder der Sicherheitsdienste sind Mosaiksteine dieser Entwicklung.
nmz: Ein weiteres großes Thema, dass vor allem im TTIP verhandelt wird, ist das Urheberrecht.
Höppner: Die Systeme und die dahinter stehenden Wertvorstellungen unterscheiden sich fundamental. Im Gegensatz zu dem US-amerikanischen Copyright steht in Europa der Urheber im Mittelpunkt. Das Urheberrecht ist das zentrale Wirtschaftsrecht im Kulturbereich. Um Kulturgüter verwerten zu können, bedarf es der Rechte an den materiellen und immateriellen Gütern. Das Urheberpersönlichkeitsrecht ist von fundamentaler Bedeutung für die nicht aufhebbare Beziehung zwischen Urheber und Werk. Wenn es nicht gelingt, dieses Selbstverständnis zu bewahren, fügen wir unserer kulturellen Vielfalt massiven Schaden zu, denn ohne Urheber – keine Werke.
nmz: Der deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert wirft der Kultur(-politik) in seinem Leitartikel „Gestalten statt Verhindern“ in der Zeitung „Politik und Kultur 1/2015“ Mutlosigkeit vor und ruft zur Mitgestaltung statt zur Verhinderung der Abkommen auf. Stimmen Sie zu?
Höppner: Dem Bundestagspräsidenten kann ich nur voll umfänglich zustimmen, bis auf die Zumessung, dass wir als Kulturverbände ängstlich agieren würden. Wir würden gerne mitgestalten, wenn man uns denn nur ließe. Dafür muss jedoch erst einmal die Grundlage für Mitgestaltung geschaffen werden, nämlich die entsprechende Transparenz über das zu Verhandelnde.
Im Gespräch mit der Politik
nmz: Die Offenlegung des Verhandlungsstandes war auch eine Ihrer Forderungen im Brief des Musikrates an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Was war Ihre Motivation? Welche Reaktion gab es?
Höppner: Diesen offenen Brief habe ich als Kulturratspräsident an die Bundesvorsitzende der CDU gerichtet. Im Nachgang dazu hat es ein Gespräch mit dem CDU-Generalsekretär Peter Tauber und der Bundestagsabgeordneten Ute Bertram (CDU) gegeben, das in einer sehr offenen, konstruktiven Atmosphäre verlief. Ich habe dabei noch einmal verdeutlicht, dass die Deregulierung der Märkte dort enden muss, wo gemeinwohlorientierte Aufgaben berührt werden und dass die gesellschaftliche Übereinkunft zur öffentlichen Finanzierung von Bildung und Kultur in Deutschland wesentlich zur kulturellen Vielfalt beiträgt und die Freiheit für die Künste gewährleis-tet. Dazu gehöre der Schutz der Urheber, die öffentliche Förderung von Bildungs- und Kultureinrichtungen wie von freien Gruppen, ein beitragsfinanzierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk und die indirekte Förderung der Kulturwirtschaft. Neben unterschiedlichen Positionen in einigen inhaltlichen Punkten haben wir uns in diesem Gespräch gemeinsam darauf verständigt, den Dialog mit der Bundes-CDU wie mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion intensiver zu gestalten – so wie wir das mit den anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ebenfalls praktizieren. Es muss unser aller Interesse sein, die Debatte um die Chancen und Risiken der Freihandelsabkommen zu versachlichen. Das kann aber nur auf der Grundlage von Information und Dialog gelingen.
nmz: Wie könnte man die geplanten Freihandelsabkommen „verbessern“?
Höppner: Wir brauchen erst einmal eine vollumfängliche Informationslage. Die EU-Kommission hat bereits bekannt gegeben, dass sie erste Teilergebnisse aus den Verhandlungen zu TTIP bekannt geben wollen. Man erfährt dabei nach wie vor nichts über die amerikanische Position, aber es ist immerhin ein erster Schritt. Zudem bräuchte man eine klare Positionierung der EU, dass Basiselemente im kulturellen Bereich, aber auch in anderen Bereichen wie Umwelt- und Verbraucherschutz durch das Abkommen nicht in Frage gestellt werden können. Die öffentliche Äußerung von Bundeslandwirtschaftsministers Christian Schmidt, dass man nicht jede Wurstsorte schützen könne und die Reaktionen darauf sind ein weiteres Beispiel für die Wirkungsbreite von TTIP. Für den kulturellen Bereich gilt es, den ermäßig-ten Mehrwertsteuersatz und auch die Buchpreisbindung, also Elemente indirekter Förderung der Kulturwirtschaft, zu schützen und nicht in Frage zu stellen. Wir wollen und brauchen diese und andere Formen der „Wettbewerbsverzerrung“, wenn wir den erreichten Stand der Kulturellen Vielfalt in unserem Land schützen und erhalten wollen.
nmz: Wie kann eine nationale Organisation wie der Deutsche Musikrat in den Strukturen der EU etwas ausrichten?
Höppner: Zum einen im Schulterschluss mit den übrigen Mitliedern des Deutschen Kulturrates, des Europäischen Musikrates und vieler weiterer zivilgesellschaftlicher Verbände. Zum anderen in der Information unserer föderalen Strukturen, die sich in den Landesmusikräten und den Mitgliedsverbänden des deutschen Musikrates wiederfinden. Darüber hinaus wollen wir eine breite Öffentlichkeit mit unserer Unterstützung des Aktionstages des Kulturrates am 21. Mai und dem Tag der Musik vom 19. bis 21. Juni, eine Aktion des Musikrates gemeinsam mit dem Verband deutscher Musikschulen, mobilisieren. Wir wollen deutlich machen, was das Freihandelsabkommen für den Einzelnen vor Ort konkret bedeuten könnte.
Kulturschutzklauseln nötig
nmz: Vor einem Jahrzehnt wurde die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt beschlossen. Wird diese durch solche Freihandelsabkommen einfach ausgehebelt?
Höppner: Es ist unsere Verantwortung als am zivilgesellschaftlichen Leben teilnehmende Organisation, ein Bewusstsein für den Wert kultureller Vielfalt, auch an anhand der UNESCO-Konvention, deutlich werden zu lassen und auch Zusammenhänge aufzuzeigen. Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, neue Antworten zu finden auf Fragen wie: Was ist eigentlich Gemeinwohl, was bedeutet Gemeinwohl für unsere Gesellschaft? Nach alldem was ich von Juristen höre, ist die UNESCO-Konvention allerdings ein zahnloser Papiertiger. Das heißt, man kann sie bei einer Verletzung der kulturellen Vielfalt nicht juristisch einsetzen.
nmz: Wir brauchen demnach Positivlisten und Ausnahmeregelungen?
Höppner: Die von Staatsministerin Monika Grütters initierte Kulturschutzklausel weist in die richtige Richtung. Sie wird allerdings nur dann Wirkung entfalten können, wenn sie nicht auf die Präambel beschränkt bleibt, sondern Paragraph für Paragraph durchdekliniert wird.
nmz: Die Verhandlung der Freihandelsabkommen ist ein internationales Thema. Inwieweit sucht der Musikrat Allianzen in Europa?
Höppner: Wegen der Unvergleichbarkeit gesellschaftlicher Strukturen auf europäischer Ebene ist es schwer, wirkungsvolle Allianzen zu schmieden. Mit der europäischen Bürgerinitiative nehmen wir derzeit diesbezüglich eine der wenigen guten Möglichkeiten wahr. Und die zweite gute Erfahrung ist die Intensivierung der Kommunikation mit dem europäischen Parlament. Eine große Herausforderung für uns alle ist es, die Diskrepanz zwischen Willenserklärung und dem möglichen Risikopotential der Abkommen deutlich zu machen. Natürlich wird kein Politiker sagen, er möchte die kulturelle Vielfalt einschränken. Verträge werden aber immer unter dem Gesichtspunkt des Worst-Case-Szenarios geschlossen und deshalb müssen wir die Diskussion auch unter den Worst-Case-Szenarien führen. Das hat nichts mit Hysterie, sondern mit ganz normalem Verhandlungs-Handwerk zu tun. Nur kann es nicht sein, dass unter dem Deckmantel der Kommerzialisierung ein kompletter Gesellschaftsumbau stattfindet. Genau das droht aber, wenn TTIP, TISA und CETA Wirklichkeit werden.