„Zelter-Plakette“, „Jedem Kind seine Stimme“, „Bundesjugendchor“: Projekte, die einer breiten musikinteressierten Öffentlichkeit zur bekannten Größe geworden sind oder es im Begriff sind zu werden. Ursprung und Heimat haben sie unter dem Dach eines großen Chorverbands, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC). Gegründet vor 60 Jahren, umfasst sie fünf große Chorverbände und hat viele gesellschaftliche Strömungen erlebt und mitgestaltet. Darüber, was war, was ist und wie es weitergeht, sprach Susanne Fließ mit Universitätsmusikdirektor Prof. Dr. Hans Jaskulsky, Präsident der nun unter dem neuen Namen Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände (BDC) firmierenden ehemaligen Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände.
neue musikzeitung: Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC), kürzlich in Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände (BDC) umbenannt, besteht seit 60 Jahren. Welche großen Ereignisse prägten die Arbeitsgemeinschaft im Laufe dieser Jahrzehnte?
Hans Jaskulsky: Da ist zunächst das Jahr 1952 zu nennen, als wir uns als ADC in Bielefeld gründeten. Viele Chöre, die im Nationalsozialismus verboten waren oder sich in den Kriegsjahren aufgelöst hatten, etablierten sich wieder. Das betraf insbesondere Chöre im kirchlichen Bereich. Eine zweite große Zäsur verursachte die Studentenbewegung Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre. Die ADC sah sich mit massiven ideologischen Vorbehalten gegen das Singen und Musizieren in der Schule konfrontiert. Die Verachtung des aktiven Singens und Musizierens hat lange Jahre angehalten, und die ADC hat viel dazu beigetragen, diese Vorbehalte abzubauen und an einer Bewusstseinsänderung auf breiter Linie mitzuwirken.
Dann ist das Jahr 1994 erwähnenswert: Die ADC wurde in jenem Jahr als eingetragener Verein in Wolfenbüttel konstituiert. Und ein Meilenstein ist nun auch das Jahr 2012: Vor wenigen Tagen beschloss das Präsidium, die ADC umzubenennen. Aus der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände, der ADC, wurde die BDC, die Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände. Damit wollen wir unter anderem die enge Partnerschaft mit der BDO, der Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände, verdeutlichen, aber auch auf die gewachsenen bundespolitischen Aufgaben hinweisen.
nmz: Weshalb wurde eigentlich ursprünglich die Bezeichnung Arbeitsgemeinschaft gewählt?
Jaskulsky: Sie beschrieb den freiwilligen Zusammenschluss der einzelnen Chorverbände. Betont wurde damit auch, dass wir in einem demokratischen Staat der Politik gegenüber gemeinsame Interessen definieren. Dazu gehört als kulturelle Gemeinschaftsaufgabe die Pflege des vokalen Laienmusizierens, für die der Dachverband gemeinsame Maßnahmen entwickelte. Auch die Förderung zur Aus- und Fortbildung von Chorleitern und die musikalische Bildung im Kinder- und Jugendbereich wurden als Gemeinschaftsaufgaben formuliert und bleiben weiter gültig. Ein Beispiel hierzu: Der Internationale Arbeitskreis für Musik (IAM), einer der fünf musiktreibenden Verbände in der BDC, hat, analog zu „Jedem Kind sein Instrument“, die Initiative eines führenden deutschen Chorverlags zur Förderung des Singens aufgegriffen: „Jedem Kind seine Stimme – JEKISS“. Damit wird auch sichtbar, wie die Aufgabenverteilung in der BDC aussieht: Impulse, kulturpolitische Vermittlung, Beratung und Vertretung der Verbände liegen bei der BDC, die Umsetzung, die praktische Erprobung, die spannenden Projekte, also das eigentliche „chorische Leben“, erfolgt in den Verbänden.
nmz: Welche Verbände versammelt die BDC unter ihrem Dach?
Jaskulsky: Zur BDC gehören der Allgemeine Cäcilien-Verband für Deutschland (ACV), der Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ), der Chorverband in der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK), der Verband Deutscher KonzertChöre (VDKC) und schließlich der Internationale Arbeitskreis für Musik (IAM). Die beiden kirchlichen Verbände stellen dabei die meisten Mitglieder. Der IAM gehört zu den kleineren Verbänden. Das jedoch liegt an seiner Ausrichtung, denn der IAM hat keine Mitgliedschöre wie die anderen Verbände.
nmz: Bedeutet das, dass die BDC sich nicht mit Wirtschaftsthemen oder Tarifdiskussionen beschäftigt?
Jaskulsky: Das tut sie durchaus, auch wenn es zunächst um den Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedsverbänden geht. Themen wie Fürsorge für Chöre im Bereich des privaten und öffentlichen Rechts, Steuerrecht, Jugend- und Arbeitsschutz, Fragen zur GEMA, zum Vereinsrecht spielen eine wichtige Rolle. Immer wieder ist hier die Kompetenz der BDC gefragt. Zu den wesentlichen Aufgaben gehört die Beratung von Chören und Chorverbänden.
nmz: Wem gegenüber vertritt die BDC diese überverbandlichen Themen?
Jaskulsky: Im Sinne eines Dachverbands hat die BDC die Aufgabe, die Verbindung zur Politik herzustellen und zu pflegen. Sie ist beispielsweise im Deutschen Musikrat als der nationalen Dachorganisation für Musik vertreten und auf internationaler Ebene in der European Choral Association – Europa Cantat, der International Federation for Choral Music (IFCM) sowie in der weltgrößten Chormusikdatenbank Musica International, deren Mitbesitzer die BDC ist.
nmz: An welcher Stelle wird die BDC für eine breite Öffentlichkeit sichtbar?
Jaskulsky: Es gibt eine traditionsreiche Aktion, die bundesweite Relevanz hat und große Aufmerksamkeit genießt, das ist die Verleihung der Zelter-Plakette. Gestiftet wurde sie vor vielen Jahren vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, von den jeweiligen Bundespräsidenten wird sie verliehen – wie auch die Pro-Musica-Plakette im Instrumentalbereich. Vorbereitung und Organisation liegen in Händen der BDC, sie sammelt und überprüft Informationen zu den Chören. Um in den Genuss einer Verleihung zu kommen, muss als Hauptkriterium eine 100-jährige Chor-Geschichte existieren. Über 100 Chöre haben sich in der jüngeren Vergangenheit alljährlich um diese Ehrung beworben: Im Rahmen der „Tage der Chor- und Orchestermusik“ werden beide Plaketten dann öffentlich verliehen.
nmz: Ist es im Zeitalter von Facebook nicht schwerer geworden, die Stimme von Vielen gegenüber der Politik zu sein, wo es doch so viele kurze Wege in die politischen Gremien gibt?
Jaskulsky: Für ein Ministerium ist es sicherlich leichter, nur einen Ansprechpartner zu haben anstelle von vielen, die ihre sehr spezifisch gelagerten Interessen vorbringen. Die Bündelung von Interessen und das Sprechen mit einer Stimme sind wesentlich, um sie auch durchsetzen zu können. Aktuell betrifft das zum Beispiel die Gespräche um die Gründung eines Bundesjugendchores und einer BundesChor-Akademie. Die Idee zu diesem Projekt geisterte seit vielen Jahren durch viele Köpfe, ohne dass jemand die Initiative ergreifen wollte. Vor zwei Jahren dann hat die BDC ein Konzept dazu entwickelt, über das nun mit dem Deutschen Chorverband und der Deutschen Chorjugend gesprochen wird. Die Trägerschaft soll beim Deutschen Musikrat liegen, analog zur bewährten Konstruktion des Bundesjugendorchesters. Die Ergebnisse dieser Gespräche werden vom Präsidenten des Deutschen Musikrates dem Bundesjugendministerium gegenüber kommuniziert, wobei auch die finanziellen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen.
nmz: Das klingt nach Schulterschluss und nicht nach Konkurrenz.
Jaskulsky: Die Chorverbände haben nach meiner Einschätzung alle verstanden, dass es bei einem Projekt von nationaler Dimension – und das ist die Gründung eines Bundesjugendchores durchaus – nicht darum gehen kann, mit unterschiedlichen Konzeptionen an die Politik heranzutreten. Umgekehrt darf die Politik von der in Verbänden organisierten deutschen Chorszene erwarten, dass sie sich bei einem solchen Projekt mit einer einvernehmlichen Konzeption präsentiert. Aus den Gesprächen sollte das Signal an die Politik und die breite Öffentlichkeit gehen, dass die deutsche Chorszene in der Lage ist, sich zu verständigen und tragfähige Konzepte vorzulegen. Diese Sichtweise hat sich, so meine Einschätzung, auch bei den anderen Gesprächspartnern breit gemacht. In der operativen Durchführung wird die Handschrift der teilnehmenden Parteien sichtbar werden, alles Weitere hängt davon ab, ob die handelnden Personen, die verwaltende, pädagogische und künstlerische Aufgaben übernehmen, so miteinander kooperieren, dass es für das Projekt fruchtbar wird.
nmz: Wie erleben Sie die Veränderung der bundesdeutschen Chorszene? Welche Rolle spielen die Ganztagsschule, und das verkürzte Gymnasium, beide mit dem Effekt, die Lebenszeit der Kinder immer mehr zu verdichten?
Jaskulsky: Im Universitätsbereich gibt es eine ganz ähnliche Entwicklung mit den relativ neuen Bachelor- und Mas-ter-Studiengängen. Die zeitliche Beanspruchung der Jugendlichen ist hier wie dort gewachsen. Dabei erkenne ich eine große Gefahr für das Laienmusizieren auf breiter Basis. Ich lebe im Ruhrgebiet, früher ein klassisches Revier beispielsweise für Werkschöre. Über beinahe ein Jahrhundert blühte hier die Kultur der Männerchöre. Mit dem Ende des Bergbaus, dem Strukturwandel in der Region, sind, bis auf wenige Ausnahmen, auch die Chöre verschwunden. Wie groß teilweise die Nachwuchsprobleme sind, ist bekannt. Auf der anderen Seite ist hier zu beobachten, dass in kurzer Zeit Kammerchöre, kleine Ensembles mit teilweise sehr spezialisierten Programmen entstanden sind. Traditionschöre und Vereine werden von solchen „Lebensabschnitts-Chören“ abgelöst, die so lange halten, bis berufliche Veränderungen einzelner Chormitglieder den Chor zur Auflösung bringen. Die in Generationen gewachsene Tradition – denken Sie an das Stichwort „100-jährige Existenz“, die wir ja auch mit der Zelter-Plakette belohnen – sieht sich hier einer anderen Art der Pflege des Chorgesangs gegenüber. Die jungen Chöre kennen oder wollen diese Ambition gar nicht mehr, in „lebenslänglichen“ Zugehörigkeiten zu denken und zu planen.
nmz: Welche Rolle spielen Migranten und ihr ganz anderer kultureller Hintergrund für die Chorszene?
Jaskulsky: Sie spielen überall dort eine Rolle, wo es gelingt, sie für die Chorszene zu interessieren. Diese Bevölkerungsgruppe in die Chorszene zu integrieren ist allerdings mit Sicherheit klassische Basisarbeit einzelner Chorverbände, die unmittelbar an den Menschen dran sind. Eine Bundesvereinigung kann aber Anstöße und Hilfen geben. Wichtige Arbeit leistet hier insbesondere unser Marktoberdorfer Projekt „Musica Sacra International“, bei dem sich Menschen aus allen Weltreligionen begegnen und versuchen, durch gemeinsames Musizieren für Toleranz zu werben und Frieden im Kleinen zu stiften.
nmz: Das Aufbrechen von Traditionen, veränderte Lebenswirklichkeiten: Welche Anliegen leitet die BDC daraus für ihre Arbeit ab?
Jaskulsky: Über ein Anliegen sprachen wir bereits, den Bundesjugendchor und die dazu gehörige Bundes-ChorAkademie. Darüber hinaus hat sich die BDC vor kurzem eine neue Heimat gegeben: In Marktoberdorf wurde unsere Geschäftsstelle installiert. Denn dort sind die beiden großen Festivals unter dem Dach der BDC angesiedelt: der Internationale Kammerchor-Wettbewerb und das schon erwähnte „Musica Sacra International“. Ferner intensiviere ich derzeit den Kontakt zu den Mitgliedsverbänden, um deutlich zu machen, was die BDC der Politik gegenüber leisten kann. Ich möchte einen intensiven Dialog innerhalb der BDC in Gang setzen, der uns aus den Mitgliedsverbänden noch deutlicher zurückspiegelt, welche Sorgen die Verbände drücken, welche Anliegen sie haben, an welcher Stelle wir ihnen bei deren Umsetzung behilflich sein können. Deshalb werde ich mich im November auch erneut zur Wahl stellen, um die Nachhaltigkeit meines Aufrufs zu unterstreichen.