Sich Gedanken darüber zu machen, wohin sich eine Gesellschaft insgesamt und speziell unter dem Gesichtspunkt der Kultur- und Bildungspolitik entwickeln muss – wann und wo geschieht dies schon? Auch wenn es keine endgültige Klärung der Frage geben kann, bedürfen die musikpolitisch Verantwortlichen doch des interdisziplinären Dialogs beispielsweise mit den affinen Wissenschaften – etwa der Soziologie und der Politologie. Das alles Entscheidende, bevor man versucht, kulturpolitische Proklamationen nach außen zu tragen, besteht darin, so etwas wie Leitlinien zu entwickeln, von denen man dann auf eine nächste Konkretionsstufe gelangen kann. Folgende Grundannahmen möchte ich daher als Diskussionsrahmen vorschlagen, weil sie eine relativ breite Plausibilität enthalten:
1. Kulturelle Pluralisierung ist ein Teil gesellschaftlichen Selbstentwurfs
2. Identifikation des Subjekts entwickelt sich zwischen Rollenzwang und Individualisierung
3. Kultur leistet die wahrscheinlich wichtigste Identifikationsaufgabe für einen Großteil der Mitglieder einer postindustriellen Gesellschaft, sehr viel mehr noch als die Arbeit, die zu einem immer stärker reduzierten Gut wird.
Doch wenn diese Annahmen einen Konsens finden, dann folgt daraus eine unmittelbare Einsicht: Wenn sich unsere Gesellschaft wirklich pluralistisch versteht, dann müsste sich diese Tatsache auch in einer Vielzahl der musikalischen Praxen zeigen, die entsprechend wahrgenommen wird. Selbst wenn man nicht behaupten kann, dass es ein Musikverbot gäbe, muss man dennoch mit Sorge beobachten, dass die Wahrnehmung von Pluralität im öffentlichen Bereich immer stärker reduziert und damit das Bewusstsein für Individualität insgesamt eliminiert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist von der UNESCO eine Konvention zum Erhalt der kulturellen Vielfalt erarbeitet worden. Die schleichende Erosion kultureller Differenziertheit hängt nicht zuletzt mit dem Medien- und Freizeitverhalten sozialer Gruppen zusammen. Wenn die Frage nach dem Glück neu oder anders als früher definiert wird, dann verändern sich auch die kulturellen Praxen. Zunächst wäre das nicht weiter beunruhigend, würde damit nicht eine Normierung einhergehen – und mit der Normierung gleichzeitig auch die Reduzierung von Individualität.
Aufgabe der Zivilgesellschaft
Damit aber stellt sich die Frage nach den Gruppen in unserer Gesellschaft, die Verantwortung übernehmen müssen. Stärker ist deswegen schon die Frage nach der Aufgabe der Zivilgesellschaft im verfassten Staat zu se-hen. Claus Offes kritisch historisches Analyse-Instrument („Staat, Markt, Zivilgesellschaft“) zeigt Entwicklungstendenzen innerhalb liberaler Demokratien auf, die zwar eine Liberalität des Marktes proklamieren und realisieren, gleichzeitig aber auch den Ort von kulturökonomischen Zwängen anheim geben, die sehr schnell zu den oben genannten Erosionsprozessen führten. Doch gerade dort, wo der Staat seine Offenheit gegenüber den Prozessen der Kultur akzeptiert (was zu wünschen ist), muss er gleichzeitig die Rahmenbedingungen garantieren, damit Bürger tatsächlich auch an der Kultur partizipieren können, indem die kulturelle Praxis selbst die Flexibilität der Zivilgesellschaft fördert. Nur so können Lebendigkeit, Offenheit und Identifikation in der ganzen Breite gewährleistet werden, die allen Bürgern, auch denen, die sich in kulturellen Nischen definieren, zugute kommt.
In einem letzten Schritt erst ist jetzt zu fragen, worin denn unser konkreter kultur- und schulpolitischer Beitrag bestehen könnte. Die Sorge, die die Konrad-Adenauer-Stiftung umtreibt, ist ja mehr als verständlich. Was hält unsere Gesellschaft musikkulturell (noch) zusammen? Droht nicht ein Verlust der Tradition(en) abendländischer Kultur, die als kulturelles Gedächtnis unbedingt gesichert werden müsste? Wie kommen wir zu größeren Verbindlichkeiten innerhalb von uns umgebenden kulturellen Belanglosigkeiten?
Toleranz gegenüber Anderem
Aber: Konservierender Musikunterricht im Sinne der von der Konrad-Adenauer-Stiftung geforderten Kanonbildung (siehe nmz 5-05, 10-06 und 3-08) kann nur bedeuten, sich von der Aufgabe des gesellschaftlichen Diskurses und des ästhetischen Dialogs zu verabschieden, weil man bereits vorher weiß, was erst am Ende eines offenen Prozesses steht. Der „Nachteil“ jeder künstlerischen Tätigkeit (und dazu gehört eben auch der Musikunterricht) ist eigentlich sein Vorteil: Alle Kunst ist auf den Dialog hin angelegt, dieser Dialog ist es, der dann dazu führt, was eine offene Gesellschaft als Erstes bedarf: Toleranz gegenüber dem Anderen. Diese Toleranz kann nicht in eine Beliebigkeit führen, sie ist vielmehr verankert in der Geschichte eines jeden Individuums.
Auch hier gilt wie schon zuvor im Zusammenhang mit den zivilgesellschaftlichen Instituten, dass es besser wäre, wenn sich der Staat heraushielte aus inhaltlichen Vorschriften für das ästhetische Lernen und stattdessen bei der Erarbeitung der Lehrpläne mehr Vertrauen in seine Lehrer setzte, die allein schon auf Grund ihrer Ausbildung über eine breitere Kompetenz verfügen. Vielleicht ist dies ja auch ein Grund für das Dahindümpeln unserer Bildungsdiskussion: Wir trauen den professionell Ausgebildeten nicht zu, dass sie die ihnen im Alltag gestellten Aufgaben flexibel lösen könnten, erst die obrigkeitsstaatliche Verordnung würde eine qualitativ hochstehende schulische Bildung garantieren. Eher schon müssen wir überlegen, ob alles mit der Ausbildung, oft auch der Fortbildung von Lehrern im Reinen ist. Hier habe ich meine Zweifel! Denn sie müsste sich mehr als bislang an der ästhetischen Pluralität der Gesellschaft orientieren, weil sonst der dringend notwendige kulturelle Dialog nicht wirklich zustandekommen kann.