Die Veranstalter Bundesakademie Wolfenbüttel und Deutscher Musikrat (DMR) hatten sich für die Tagung „Musik und Verantwortung – Perspektiven der Musikpolitik in Deutschland“ viel vorgenommen. Am 8. und 9. Januar sollten in Wolfenbüttel Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen einerseits und Musikkulturbetrieb sowie Musikvermittlung andererseits beleuchtet werden. Die angestrebte Debatte sollte der Arbeit des Bundesfachausschusses Musik und Gesellschaft des DMR und der Politik des DMR insgesamt Impulse geben. Eingeladen waren Verantwortungsträger, die in Praxis und Theorie von Musik, musikalischer Bildung, Musikproduktion und Musikvermittlung engagiert sind.
Vorträge, Stellungnahmen und Diskussionen wurden miteinander verflochten, um die Herausforderungen, die der gesellschaftliche Wandel für die Musikkultur und die Musikvermittlung mit sich bringt, zu betrachten. Um es vorweg zu nehmen: Aufgrund der Weite der Themenstellung und der Schwierigkeit, Diskussionen und Statements zu fokussieren, hat die Tagung mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Sie bot die Möglichkeit, nachzudenken, ohne der Verpflichtung nachkommen zu müssen, konkrete Ergebnisse zu erzielen. Letztendlich zeigte sich, dass eine Vielfalt von Gesichtspunkten zu einem Thema nur förderlich ist – von je mehr Punkten aus man schauen kann, umso mehr kann man wahrnehmen. Insofern ist dieser partizipative Ansatz, Musikpolitik mit interessierten Verantwortlichen zu diskutieren und sich gesellschaftspolitischen Input von Fachleuten anderer Disziplinen zu holen, nur zu begrüßen.
Einem wichtigen Meilenstein der deutschen Kulturpolitik, dem Bericht der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“, war das erste Podiumsgespräch gewidmet. Unter der Moderation von Barbara Haack beleuchteten die Musikkulturexperten Tilmann Allert, Hans Bäßler, Susanne Binas-Preisendörfer, Hans-Willi Hefekäuser und Winfried Richter Wirkungen und erste Ergebnisse, die der Enquete-Bericht bisher gehabt hat. Es wurde deutlich, dass er das Bewusstseinsniveau der Politik in Bezug auf alle mit Kultur verbundenen Themen gehoben hat, aber nach wie vor zahlreiche Felder vernachlässigt werden. Zwar konnten die Attacken gegen die Künstlersozialversicherung vermutlich auch aufgrund des Berichts besser abgewehrt werden, aber der Bereich kulturelle Bildung ist nach wie vor rückläufig. Letztendlich müssen Wege gesucht werden, wie aus den vielen guten Empfehlungen des Berichts Aktionen erfolgen können. Eine Aufgabe, die einen langen Atem verlangt und bei der leider ungeklärt ist, wer sie sich zu eigen macht.
Im Vortrag von Heiner Barz ging es um „Milieu des Glücks – Glück des Milieus – Über den Wandel gesellschaftlicher Glücksvorstellungen und seine Gründe“. Der Soziologe stellte schlüssig dar, wie seit den 50er-Jahren der Vorrang von durch die Gesellschaft vorgegebenen Werten durch die individuelle Schöpfung von Wertvorstellungen je nach Kontext und Lebenslage abgelöst wurde. Dieser situative Umgang mit Werten führt zu einer Flexibilisierung, die unstetes Verbraucher- und Wahlverhalten zur Folge hat. Zur Beschreibung von Bevölkerungsgruppen reicht nun nicht mehr das sich auf sozioökonomische Gegebenheiten beziehende Schichtenmodell, sondern soziale Milieus und Grundeinstellungen werden definiert. In der anschließenden Diskussion wurde betont, dass sich gerade die musikalische Bildung dieser unterschiedlichen Milieus bewußt sein muss.
„Staat, Markt, Zivilgesellschaft – Entwicklungstendenzen in liberalen Demokratien“ war das Thema, dessen sich der Politologe Claus Offe annahm. Er beleuchtete auf brilliante Weise die Entstehung der Demokratie, des Sozialstaates und die Interventionsmöglichkeiten sozialstaatlicher Politik. Offe prognostizierte, dass die Themen kulturelle Identität und Kulturpolitik in Zukunft stärker an Bedeutung gewinnen werden. Multinationalität und Multikulturalität, die durch die europäische Integration in den Vordergrund rücken, führen dazu, dass kulturelle Identitäten nicht mehr räumlich zuweisbar sind. Noch weiß niemand, wie damit umgegangen werden kann, wenn gegensätzliche kulturelle Identitäten in enger Nachbarschaft existieren. Die Zivilgesellschaft, in der Bürger mit Interesse an bestimmten Zwecken freiwillig kooperieren, bildet ein soziales Kapital außerhalb staatlicher Organisationen.
Beim anschließenden Austausch aller Anwesenden zeigte sich, dass das Thema zivilgesellschaftliche Verantwortung von großer Bedeutung für die Musikpolitik ist. Die staatliche Unterstützung ehrenamtlicher Zusammenschlüsse wie der Musikräte birgt allerdings die Gefahr, dass der Staat diese zivilgesellschaftlichen Organisationen auch steuern und lenken will. Es ist notwendig, eine Debatte zum Thema Zivilgesellschaft – Staat zu führen, in der die unterschiedlichen Auffassungen des Verhältnisses dieser beiden und ihre Art der Kooperation diskutiert und definiert wird. Schließlich entlasten Ehrenamtler den Staat in hohem Maße, ein Musikland entsteht nicht durch seine Opernhäuser, sondern durch die breite Basis. Dies sollte Politikern bewusst gemacht werden!
Mit dem Themenkreis „Kulturelle Vielfalt versus Leitkultur – Über die deutsche Gesellschaft als Zuwanderungsgesellschaft“ beschäftigte sich der Vortrag des Soziologen und Vorsitzenden des Rates für Migration, Michael Bommes. Er wies nach, dass Deutschland aus demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist, die EU sich allerdings über die Perspektiven von Zuwanderung nicht einig ist. Kehrseite hiervon ist die illegale Migration, über die nur grobe Schätzungen existieren. Auf politischer Ebene wird das Thema von zwei Seiten aus angegangen, einerseits analysierend und steuernd, andererseits Migration als Gefahr abwehrend. Ebenso ist die Reaktion auf Migration unterschiedlich, während die einen die Vielfalt (Diversity) begrüßen, bemühen die anderen den Begriff der Leitkultur als kultureller Klammer. In der folgenden Diskussion wurde festgestellt, dass kaum Migranten in musikpolitischen Zusammenhängen zu finden sind. Unklar ist gerade im Bereich des Laienmusizierens, was mit Integration durch Musik gemeint ist – gemeinsam auftreten? In Ensembles assimilieren? Eine Gefahr stellt der Exotismus dar, das Bestaunen des Anderen und Fremden führt nicht zwangsläufig zu Respekt und Integration. Oft ist es problematisch, die richtigen Ansprechpartner unter Migranten zu finden. Bommes zeigte auf, dass die These, die Gesellschaft würde durch Kultur zusammengehalten, nicht plausibel ist. Integration wird aus soziologischer Sicht als gelungen betrachtet, wenn Teilhabe an Familie, Arbeit und Bildung besteht. Sie ist etwas, was jeder Einzelne selbst leisten muss.
In der Abschlussrunde der Musikkulturexperten wurden unterschiedliche Aspekte noch einmal zur Diskussion gestellt. Eines wurde hier sehr deutlich: Es gibt viel zu tun und das nicht nur für den Deutschen Musikrat!
Eine Dokumentation der Tagung wird in der hauseigenen Reihe der Bundesakademie „Wolfenbütteler Akademie-Texte“ erscheinen. Der Band kann vorbestellt werden unter: www.bundesakademie.de