Vier Jahre hat das Netzwerk Neue Musik (NNM) seine Netze knüpfen können. Die Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes (KSB) läuft wie geplant Ende des Jahres aus. Im Vorfeld der Abschlussveranstaltung „Netzwerk-ausklang“ am 16. und 17. Dezember in Köln unterhielt sich nmz-Chefredakteur Andreas Kolb mit dem Künstlerischen Leiter des Netzwerks, Bojan Budisavljevic, über die vergangenen vier Jahre und ihre Folgen.
neue musikzeitung: Man muss sich selbst abschaffen. Was herrscht vor: Wehmut oder die Freude über das Erreichte?
Bojan Budisavljevic: Beides! Oder genauer: Wehmut über das, was, wie vorhersehbar oder nicht, eben nicht erreicht wurde, beispielsweise die Fortführung der sicher nicht perfekten, aber hoch ambitionierten Großstadtnetzwerke in Berlin oder Hamburg. Und gleichzeitig gibt es reichlich Anlass zur Freude über all das, was die Netzwerkprojekte insgesamt in den vier Jahren erreichen konnten, was sie, wie überraschend oder selbstverständlich auch immer, an Potenzialen und Qualitäten haben dank der Förderung entfalten können – mit ihrem Engagement in ihren Städten und Regionen – bundesweit und allein bis Oktober gezählt in knapp an die 3.100 Veranstaltungen aller Art für über 300.000 Menschen.
nmz: Wurden die selbstgesteckten Ziele erreicht? Neues Publikum? Neue Öffentlichkeit? Neue Veranstalterstrukturen?
Budisavljevic: Um bei den Zahlen zu bleiben: Zu den zwölf Millionen Euro Fördermitteln der KSB haben die Netzwerke über die vier Jahre auch zwölf Millionen Euro an Kofinanzierungen aus weiteren öffentlichen Förderungen, aber auch Eigenmitteln beigesteuert. Dem Matching-Funds-Prinzip entsprechend hätten es nur acht Millionen Euro Projektmittel sein müssen. Das zeigt, wie selbstverständlich und hoch man die Neue Musik hierzulande schätzt.
Gemeinsam mit den 15 Netzwerkprojekten ist es im NNM so gelungen, eine breite Bewegung in der und hin zur Neuen Musik zu erzeugen – jeweils vor Ort und für die dortigen Bedürfnisse und Herausforderungen zugeschnitten. Das setzte an bei den vielfältigsten Vermittlungsformen und -veranstaltungen für Kinder, Schüler, Jugendliche, für Musiker und Multiplikatoren. Hier wurde die Basis gelegt, und der Erfolg so unterschiedlicher Projekte auf der „grünen Wiese“ der Neuen Musik wie in Kiel, Augsburg oder Rheinland-Pfalz etwa zeigt das nachdrücklich. Da wurde was von unten aufgebaut, mit Qualität. Auch wurde die Produktivität und Kreativität der Szene neu angeregt. Es wurde nicht nur mehr Neue Musik gemacht, auch haben sich beispielsweise in den traditionellen Zentren der Neuen Musik wie Köln oder Freiburg die bekannten Akteure zu einem neuen Miteinander zusammengefunden, haben Synergien entwickelt und so größere Aufmerksamkeit für sich, aber auch die Sache erzeugt. Insbesondere die Resonanz beim Publikum vor Ort und den regionalen Medien zeigt, dass Neue Musik ein Thema ist und sein kann, dass sie, wie jede zeitgenössische Ausdrucksform, selbstverständlich ist. Damit haben sie die Neue Musik vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Vorurteil, diese sei ein verkopftes Genre, das schlecht vermittelbar ist, sowie dasjenige, zeitgenössische Musik fände vorwiegend im Off der öffentlichen Wahrnehmung statt, haben die vom Netzwerk Neue Musik aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekte nachhaltig widerlegt. Zeitgenössische Musik ist sinnlich und anregend, sie braucht und sucht ihr Publikum, und sie findet es, wenn man sie lässt und wenn man sie es gut machen lässt. Diese Möglichkeit gab den Projekten das NNM über vier Jahre, und sie haben sie, ein jedes auf seine, für die Stadt und Region zugeschnittenen Weise genutzt. Und es ist auf breiter Basis gelungen, das junge und nachwachsende Publikum mitzunehmen. An dieser neuen Selbstverständlichkeit ist freilich weiterzuarbeiten.
nmz: Wo gibt es Nachhaltigkeit?
Budisavljevic: Strukturell nachhaltig verankert für die Zeit nach dem Förderprojekt sind auf jeden Fall beide Netzwerke in Niedersachsen, Musik 21 und klangpol Oldenburg, weil das Land auch strukturpolitisch klug auf die Netzwerkförderung reagiert hat. So auch die entsprechenden Förderer in Köln, Kiel, Rheinland-Pfalz, Freiburg und Augsburg. Diese Projekte werden mit neuen Mitteln ihre Arbeit über 2011 hinaus fortsetzen, wenn auch nicht im bisherigen Umfang, so doch mit weit besserer Ausstattung als vor 2008. Die Netzwerke in Essen, Moers, Stuttgart, dem Saarland und Dresden haben solche Zusagen nicht, aber sie werden verstärkt Eigen- und freie Projektmittel für ihre bisherige Arbeit einsetzen, weil sie das, was sie in den vier Jahren zuvor erreicht haben, nicht aufgeben wollen und weitermachen werden. Beides zeigt, dass wir mit dem NNM richtig gelegen haben. Den Nachklang organisieren die Projekte nun selber. Sie, das hat sich auch gezeigt, bilden hierzulande die überaus rege Basis eines musikkulturellen Alleinstellungsmerkmals mit 100-jähriger Tradition.
nmz: Ein beliebter Vorwurf gegenüber dem Netzwerk Neue Musik ist unter dem Begriff Vermittlungsmusik subsumiert. Anders: Hat das NNM gar nicht die Gegenwartsmusik befördert wie beabsichtigt, sondern eine neue Sparte sogenannter (geförderter) Musikvermittlungsmusik begründet, deren Niveau weit unter dem liegt, was die „echte“ Neue Musik zu bieten hat?
Budisavljevic: Nun ja, wenn Sie so denken, dann dürfen Sie aber auch nicht die ebenfalls geförderte Musikfestivalmusik vergessen oder die Musikauftragsmusik zu besonderen Anlässen, ob Liszt, Luther oder EU-Erweiterung, und auch nicht die Spielart der Gegenwartsmusik-Beförderung, „weil mal wieder was Neues dran ist“. Wobei überhaupt nicht ausgemacht ist, dass da nicht was musikalisch „Niveauvolles“ oder „Echtes“ dabei entstehen kann. Wie auch immer: Bei so einer Betrachtung ist die Perspektive allemal partiell, eingeschränkt. Musik entsteht in der Gegenwart, wenn man’s denn nur zulässt, so oder so, aus handfestem Grund ebenso wie aus flüchtiger Inspiration. Hier zwischen „echt“ oder „falsch“, mehr oder weniger Kunst kategorisch zu entscheiden, wäre für ein bundesweiters Förderprojekt widersinnig gewesen. Nicht nur, weil die Neue Musik in Freiburg eine andere ist als in Oldenburg oder Frankfurt/Oder; sondern auch, weil es galt, möglichst viele der Faktoren zu stimulieren, die das Musikleben mitbestimmen und es auf die Gegenwart einstimmen. Ob nun in Schulprojekten oder etwa mit Dieter Schnebel. Diese ganze Bandbreite des Musiklebens galt es abzudecken, und ihre eigene Perspektive dabei hatten die Projekte vor Ort zu entwickeln.
nmz: Das Haifischbecken Neue-Musik-Szene ohne Netzwerk-Förderung: Beginnt ein neuer Kampf um die verbliebenen Fördergelder?
Budisavljevic: Na, weder Hai- noch Zierfischbecken stimmt; weder steht der Neuen Musik die Selbstzerfleischung bevor, noch die Aufhübschung ins Exotische, dazu ist sie zu artenvielfältig und zu eigensinnig. Aber, um ökologisch zu bleiben: Die Biosphäre Neue Musik ist keineswegs ungefährdet. Was ist sie uns also wert? Diese Frage stellt man sich dank des Netzwerks Neue Musik auf Seiten der Akteure wie der Alimentierer häufiger und ernsthafter, ohne dass die Antworten automatisch positiv ausfallen müssen.
Aber man hat mancherorts und vermehrt zu schätzen gelernt, wie wichtig und bereichernd die Neue Musik insgesamt sein kann: für das Repertoire, das Hören selbst oder die Kultur überhaupt. Hier kommt dazu, dass in funktionierenden Netzwerken auch das (schon wieder Ökologie!) Ressourcenmanagement besser funktioniert: ob das nun finanzielle Mittel, die Aufmerksamkeit des Publikums oder das künstlerische Gut betrifft. Neue Musik ist kein Kampfplatz. Sie ist, da, wo das Netzwerk wirklich erfolgreich war, ein wertvolles Feld für gemeinsame und verantwortliche musikalische Landschaftspflege.
nmz: Das Netzwerk hat auch eine Art Kanondiskussion ausgelöst: Wie stehen Sie dazu?
Budisavljevic: Vereinzelt in den Projekten, in Köln aber ganz besonders, hat man sich Gedanken gemacht um Schlüsselwerke der Neuen Musik, und wir haben diesen Gedanken aufgegriffen und 2009 ins gesamte Netzwerk eingespielt; nicht um Maßstäbe zu setzen, sondern um einen weiteren Kontext von Vermittlung anzuregen. Ein programmatischer oder auch his-torischer Werk-Kontext ist da sicher ebenso legitim und erhellend, wie eine Unterrichtsreihe. Und vielleicht nichts anderes ist es auch: Ich stelle ein Einzelnes in einen Bezug oder eine weitere Umgebung: Vermittlung eben, schlicht als in Beziehung setzen. Manche bekämpften das ideologisch. Ich würde sagen, sie hatten einen anderen Bezug. Wie auch immer: Als eine Methode unter vielen können Schlüsselwerke eine Art von Geschichten über Neue Musik erzählen und sie erklingen lassen. Sie haben was chiffriert, und es kann entschlüsselt werden und Schlüsselerlebnisse vermitteln.
nmz: Welches Feedback zur inhaltlichen Arbeit gab es von Seiten der Medien?
Budisavljevic: Nachgerade begeistert sind wir über das Echo und die Aufmerksamkeit, die gerade diejenigen Netzwerkprojekte in ihren regionalen Medien und vor Ort bekommen haben, die quasi „auf der grünen Wiese“ angefangen haben. Kiel, Augsburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen. Aber auch in „Zentren“ wie Köln oder Freiburg haben sich sowohl das Mehr an Neuer Musik, als auch die Überschaubarkeit der Präsentation positiv auf die Wahrnehmung ausgewirkt. Da hat sich über vier Jahre gezeigt, dass musikalische Gegenwartskultur und zeitgenössische Kunstmusik sehr wohl ein spannendes Thema auch für die Medien sein kann, das gerne aufgegriffen und journalistisch intensiv gepflegt wird. Da setzt sich nicht Quantität durch, sondern die Qualität, das, was vor Ort Eindrücke hinterlässt. Und was die Leitmedien angeht: Das ist ein weites Thema… Da geht’s der Neuen Musik wohl nicht anders als der Klassik: Wer von denen merkt schon, dass auch die 25. „Entführung aus dem Serail“ in Duisburg schon ziemlich spitze ist.
nmz: Waren Sie zufrieden mit der Rolle der Medienpartner?
Budisavljevic: Ja, und zwar nicht, weil sich das Netzwerk in ihnen selbstzufrieden selbst bespiegelt hätte. Sondern weil sie – die nmz wie in einmaliger Weise die beiden Programme von Deutschlandradio, allen voran der Deutschlandfunk, aber auch dradio Kultur – uns und den Projekten kontinuierlich und kenntnisreich einen Spiegel vorgehalten haben, in dem auch die Falten und Krähenfüße zu sehen waren. Dieser kritische Blick über die Jahre war allemal wertvoller als jegliche pompöse Verlautbarung.
nmz: Am 16. und 17. Dezember findet in Köln ein Abschlussfestival statt. Gibt es wirklich einen Grund zu feiern?
Budisavljevic: In aller Bescheidenheit danken wir mehr symbolisch als irgendwie Gleiches mit Gleichem vergeltend den Projekten für ihr Engagement und ihre Ausdauer mit jungen Musikern und Klassikern, in Gesprächen. Dass und wie die Netzwerke sich vier Jahre lang in der erlebten Weise für die Sache der Neuen Musik eingesetzt haben, das ist ein Grund, gemeinsam zu feiern. Sie alle haben die vier Jahre geschafft, und auch die waren, Nachhaltigkeit hin oder her, nicht einfach. Sie haben wahrlich viel bewegt.
nmz: Stete Aufführung höhlt den Stein. Gibt es Auswirkungen auf Projekte außerhalb des NNM?
Budisavljevic: Das Netzwerk war ja kein ganz singuläres Ereignis und mit ihm ist auch nicht die Kommunikation zu Projekten außerhalb abgebrochen. An Vernetzungen von Potenzialen und neuen Vermittlungsformen wird und wurde allenthalben gearbeitet, wo man sich wirklich Gedanken macht. Das Förderprojekt der Kulturstiftung des Bundes war eine ebenso fällige wie notwendige Reaktion darauf: ein großräumiger Rahmen. Es hat diese Bewegung repräsentativ und anhand ausgesuchter Projekte aufs ganze Musikland übertragen. Und wenn dadurch auch ein neuer „spin“ in die Sache gekommen ist, dann ist es sicher nicht unbeabsichtigt.
nmz: Die Rundfahrt des sounding D-Zuges im Sommer 2010 war das Event des NNM. Welche Bedeutung messen Sie dem Zug im Nachhinein bei?
Budisavljevic: Es war ein Netz-Werk im Kleinen, statt in vier Jahren, in vier Wochen. Und es war alles drin, was draufstand: „Neue Musik in Deutschland erfahren“. Mehr nicht, und nicht weniger. Und es hat funktioniert, wir konnten ein starkes und unverbogenes Bild des Projekts abliefern. Eine Leistung der Netzwerkprojekte und, mit Verlaub, unseres Berliner Teams. 30.000 Besucher in deutschlandweit 16 Städten, dafür benötigt auch manches traditionelle Festival an einem einzigen Ort ein Vielfaches an Mitteln und Einsatz.
nmz: Die Neue-Musik-Welt funktioniert wie eine Subkultur, will aber auch Mainstream sein (anders: Wir wollen untereinander bleiben; aber wir wollen auch raus). Welche Tendenzen erkennen Sie nach vier Jahren Arbeit?
Budisavljevic: Was für eine Frage – vielleicht der Versuch einer Antwort: Man muss untereinander bleiben, denn das schärft die Individualität. Und man muss raus, denn das schafft die Differenz, in der Individuelles auffallen und bemerkt werden kann.
Keine Aussicht ohne Einsicht, keine blühenden Landschaften ohne einzelne Knospen. Es ist eine Sache der Rahmenbedingungen von Musikleben, ob sich dieser Organismus entfalten kann. Wenn es in die Richtung eines wachsenden Bewusstseins dafür geht, dann haben auch wir nicht ganz falsch gelegen.
nmz: Gibt es messbare Auswirkungen im Bildungssektor und im Konzertbetrieb?
Budisavljevic: Eindeutig ja, was die Professionalisierung und Qualifizierung von Vermittlung und Vermittlern anlangt. Da hat die Zahl von Fortbildungen, Workshops und Studieninhalten für Lehrer und Musiker, die genau das zum Ziel haben, an den Netzwerkorten zugenommen. Ganz deutlich bemerkbar an den traditionellen Hochschulstandorten wie Freiburg, Köln, Saarbrücken, Hannover, Essen oder Berlin, aber auch in Mainz, Kiel und Lübeck, Lüneburg oder Augsburg. „Qualifizierung von Multiplikatoren“ wird sehr wichtig genommen, weil ohne sie die Qualitäten Neuer Musik schlichtweg nicht „rüberkommen“. Und natürlich gab’s im Netzwerk auch quantitativ ein Mehr an Neuer Musik; es wäre ja was falsch gelaufen, wenn nicht.
Bemerkenswert wird’s jedoch, wenn auch da qualitative Folgen nachkommen: die Augsburger Vermittlungsarbeit an Schulen zieht die Gründung einer Konzertreihe und eines Neue-Musik-Ensembles aus Musikern des Philharmonischen Orchesters nach sich; ein erfolgreiches Festival in Kiel die Gründung eines Landesjugendensembles für Neue Musik, die landesweiten Aktivitäten von Musik 21 eines solchen in Niedersachsen; die Basisarbeit des Netzwerk Süd „fixt“ die Mittel- und Kleinstädte der Stuttgarter Region an und motiviert sie erfolgreich dazu, auch weiterhin zeitgenössische Musik und Klangkunst in ihrem Beritt anzubieten. Das sind nur wenige Beispiele, oder, was das Netzwerk auch liefern sollte: Modellprojekte.
Das Gespräch führte Andreas Kolb