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«Wir sind Berlin» - 100 Tage Kulturstaatssekretär Tim Renner

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Berlin - Er begann als Punk-Rocker, später handelte die Musikbranche ihn als «Wunderkind», «Trendscout» und «Starverkäufer». Seit 100 Tagen ist Tim Renner jetzt Kulturstaatssekretär in Berlin. Ist er in die komplizierte Struktur des riesigen Berliner Kulturapparats bereits hineingewachsen? Eine Bilanz.

 
 
Sogar in die extra für ihn reservierte Diensttoilette gewährt Berlins neuer Kulturstaatssekretär Tim Renner auf Facebook Einblick. «Komisch, dabei habe ich gar keine Angst davor, Kollegen beim Pinkeln zu treffen», tut der 49-Jährige kund. Renners Facebook-Follower sind seit Wochen bestens über seinen Dienstkalender informiert, wissen, dass er sich mit Mitarbeitern duzt, die Zugehfrau um das Bereitlegen von Deutschlandsocken bittet und seine Aktentasche die Geheimnummer 007 hat.
 
Besser hätte der «Neue» in seinen ersten 100 Tagen nicht klarmachen können, dass er alles andere ist als ein klassischer Politiker. Der einstige Deutschlandchef des Musikbranchen-Riesen Universal und Entdecker von Größen wie Phillip Boa, Rammstein und Sportfreunde Stiller will auch in den verwinkelten Amtsstuben der Kulturverwaltung an der Berliner Brunnenstraße der coole Typ bleiben, immer zu einem schrägen Spruch aufgelegt. «Facebook ist für mich der Kontakt zur Groundcontrol», sagt er. Eine Krawatte kann er angeblich bis heute nicht binden.
 
Als Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), in Personalunion auch Kultursenator, den Quereinsteiger Ende Februar aus der Tasche zauberte, war in der etablierten Kunstszene das Staunen groß. Der populäre Vorgänger André Schmitz, Wella-Erbe mit Schloss und Einstecktuch, war ein erfahrener Verwaltungsfuchs mit besonderem Herz für die Hochkultur. Er stolperte über eine Steueraffäre.
 
Obwohl der Nachfolger in die komplizierte Struktur des riesigen Berliner Kulturapparats erst hineinwachsen muss, sind die ersten Noten für das Experiment Renner gar nicht schlecht. «Er ist sehr offen und kommunikativ und hat eine angenehme Art, auf Menschen zuzugehen», sagt die Grünen-Kulturexpertin im Abgeordnetenhaus, Sabine Bangert.
 
Wie sie erhofft sich auch der CDU-Abgeordnete Michael Braun «neue Akzente» etwa für Projekte und Initiativen, Musik und Tanz - die Ingredienzien, die gerade Berlins Image als quirlige Kreativmetropole ausmachen.
 
Nach Angaben der Koalition der Freien Szene, einem Bündnis frei arbeitender Kulturschaffender, hat Renner sich schon intensiv um Kontakte bemüht. «Der Knackpunkt wird jetzt sein, ob es ihm bei den Haushaltsverhandlungen auch gelingt, das Missverhältnis in der Förderung abzubauen», sagt Sprecher Christophe Knoch. Von fast 400 Millionen Euro gingen 95 Prozent an große Institutionen wie Oper, Theater und Museen, nur fünf Prozent blieben für die Freie Szene.
 
Renner hat nach eigenen Angaben das Thema groß auf seine Prioritätenliste gesetzt. «In Berlin ist die Kultur ein bedeutsamer Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum der Stadt», sagte er der Nachrichtenagentur dpa. «Dafür will ich werben und den Einfluss meines Amtes einsetzen.»
 
Auch in einem Essay im Berliner «Tagesspiegel» unter dem Titel «Wir sind Berlin» bekannte er sich kürzlich nachdrücklich zur Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft. Sie sei mit mehr als 400 000 Arbeitsplätzen die größte produzierende Branche der Stadt. Und: Was in Berlin passiert, findet in ganz Deutschland Beachtung - und sei es nur, um über die Hauptstadt mal wieder den Kopf zu schütteln.
 
Aber natürlich ist nicht nur die freie Szene eine Herausforderung. Das Land ist auch am Mammutprojekt zum Wiederaufbau des Schlosses beteiligt. Die millionenschwere Sanierung der Staatsoper bleibt eine Serie von Pleiten, Pech und Pannen. Und bei Wowereits ehrgeizigem Lieblingsprojekt einer «Metropolenbibliothek» muss nach dem Volksentscheid zum Tempelhofer Feld die jahrelange Planung wieder bei Null beginnen.
 
Der Linken-Abgeordnete Wolfgang Brauer ist skeptisch, ob Wowereit seinem Staatssekretär genügend Freiraum für die Arbeit gibt. «Er ist ein König Johann Ohneland. De facto wird er von Wowereit ausgebremst», sagte Brauer.
 
Und der Deutsche Kulturrat, Dachorganisation von mehr als 200 Bundeskulturverbänden, mahnt Tempo beim Hauptstadtkulturvertrag an, den Bund und Land bis 2017 neu ausgehandelt haben müssen. «Ich hoffe, dass Herr Renner jetzt nach 100 Tagen Eingewöhnungszeit voll durchstartet», sagt Kulturrats-Geschäftsführer Olaf Zimmermann.
 
Wird es Renner bei so vielen Erwartungen mulmig? Hat er gar seinen Jobwechsel schon mal bereut? «Ja, jeden Morgen um 6.45 Uhr, wenn der Wecker klingelt, damit ich pünktlich im Rathaus oder in der Brunnenstraße bin.» 
 
Nada Weigelt
 
 
Tim Renner im Interview mit dpa:
 
Frage: Was war das Wichtigste, was Sie bisher auf den Weg gebracht haben?
 
Antwort: In den ersten 100 Tagen galt es, zuerst die Akteure in Kultur und Kunst, in Politik und in der Verwaltung kennenzulernen. Am wichtigsten schien mir, mit den Mitarbeiter/innen der Kulturverwaltung Leitlinien und Schwerpunkte für die nächsten zwei Jahre zu erarbeiten. Dies ist uns gelungen: Wir werden uns in erster Linie auf die Schaffung und Sicherung kultureller Orte, die Transparenz unseres Handelns, unserer Entscheidungen, auf die Fragen der Digitalisierung, eine Neuausrichtung der Förderstruktur und die Sicherung und den Ausbau der Vielfalt Berlins in der Kultur und Kunst konzentrieren.
 
Frage: Haben Sie die Entscheidung zum Jobwechsel schon mal bereut?
 
Antwort: Ja, jeden morgen um 6.45 Uhr, wenn der Wecker klingelt, damit ich pünktlich im Rathaus oder in der Brunnenstraße bin. In der Musikwirtschaft beginnt die Arbeit kaum vor 10 Uhr...
 
Frage: Was halten Sie selbst für Ihre größte Stärke im Amt?
 
Antwort: Ob meiner Herkunft aus der Kreativwirtschaft habe ich einen anderen Blickwinkel, eine größere Unabhängigkeit und womöglich auch andere Erfahrungen, die mir immer wieder verdeutlichen: Kultur ist für mich nicht nur ein gesellschaftlicher Selbstzweck, sondern auch ein eminenter Bestandteil der Innovationsförderung. In Berlin ist die Kultur ein bedeutsamer Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum der Stadt. Dafür will ich werben und den Einfluss meines Amtes einsetzen.
 
ZUR PERSON: Tim Renner, am 1. Dezember 1964 in Berlin geboren, wuchs in Hamburg auf. Nach dem Abitur brach er ein Germanistikstudium bereits nach einem Semester als zu langweilig ab. Durch einen Zufall kam er 1986 zur Plattenfirma Polydor, drei Jahre später übernahm er dort die neue Abteilung Progressive Music. Nach der Fusion mit Universal stieg er dort zum Vorstandschef Deutschland auf. 2005 startete er unter dem Namen Motor Music sein eigenes Label, das jetzt seine Frau weiterführt. 
 

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