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Hannover - Künstler in Krisengebieten und Diktaturen riskieren für neue politische Ideen oft ihr Leben. «Das fasziniert uns», sagt Wolfgang Schneider von der Universität Hildesheim, Deutschlands erster und bisher einziger Universitätsprofessor für Kulturpolitik, im Vorfeld des Hildesheimer Weltkongresses für Kulturpolitikforschung (9. bis 12. September sowie vom 12. bis 13. September in Berlin).
Trotz Zensur und Verboten finde sich immer wieder Publikum. Im Interview der Nachtrichtenagentur dpa erklärt er, warum es auch in Deutschland darum gehen muss, Zugänge zur Kultur zu schaffen und Barrieren abzubauen.
Wolfgang Schneider im Interview mit Thomas Strünkelnberg:
Frage: Welche Rolle spielen Künstler heute - und wie wichtig ist die Kulturförderung?
Antwort: In der Demokratie wird in erster Linie versucht, die Freiheit der Kunst zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ein Grundsatzurteil gefällt, das besagt, dass sich daraus eine Verpflichtung ergibt - man hört immer wieder, wenn es um Finanzkrisen, Haushaltskonsolidierung und Schuldenbremsen geht, dass Kulturförderung eine freiwillige Aufgabe sei. Nein, das ist nicht freiwillig, weil Künstler eine Rolle in der Gesellschaft spielen sollen. Dass Künstler sich zu allen Zeiten auch politisch geäußert haben, hat einfach damit etwas zu tun, dass Kunst nicht immer abgehoben, sondern gesellschaftlich verwurzelt ist und etwas mit den Menschen zu tun hat.
Frage: Dafür müssen Künstler mit ihrem Publikum aber in Kontakt treten. Welche Möglichkeit haben sie heute gerade in krisenhaften Situationen?
Antwort: In Gesellschaften, in denen Diktatur herrscht, ist das künstlerische Arbeiten erschwert. Aber es ist eine der Aufgaben der Kunst, nicht selbstgefällig das, was ist, darzustellen, sondern die Sphäre des Imaginären. Das bedeutet auch, immer weiterzudenken und Grenzen zu überschreiten. Das finden wir insbesondere in Gesellschaften, die sich in Konflikten befinden, und dort sind Künstler teils auch vom Tode bedroht, weil die Gefahr besteht, dass über künstlerische Äußerungen gesellschaftliche Bewegungen begleitet werden. Es gibt dort Zensur und Verbote, aber es findet sich immer wieder Publikum, manchmal auch spontan.
Aber es gibt mittlerweile ganz andere Möglichkeiten: das sind die digitalen Medien. Wir haben in der Auseinandersetzung mit der arabischen Revolution aber gesehen, dass auch Straßenkunst in jeglicher Form, von Graffiti bis zur Musik, eine Rolle spielen kann, vor allem in größeren Städten.
Frage: Wie ist die Lage in Krisenregionen wie Nordafrika oder dem Nahen Osten?
Antwort: Wir können dort zunächst einmal von keinem System der Kulturförderung wie in Europa ausgehen. Oft spricht man vom Künstler als Kulturunternehmer, der dafür sorgen muss, genug zum Leben und meist nur zum Überleben zu haben. Vor allem im südlichen Afrika sind es oft die Entwicklungshilfeorganisationen, die sich mit europäischen und amerikanischen Geldern dort einschalten - die auch wissen, welche Rolle Künstler bei der Gestaltung von Gesellschaft spielen können.
Frage: Welche Kunst hat sich in Krisensituationen als besonders wirkungsmächtig erwiesen?
Antwort: Audiovisuelle Medien haben besondere Möglichkeiten. Es ist aber nicht immer nur eine Frage von Künstlern oder Kunst, sondern auch von Kulturvermittlung oder kultureller Bildung. Das ist eine Dimension, die weltweit festzustellen ist - es geht darum, Zugänge zu schaffen und Barrieren abzubauen. Davon ist auch Deutschland nicht frei, ich behaupte sogar, dass wir gegen das Menschenrecht der kulturellen Teilhabe massiv verstoßen. Es ist so, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht teilhat. Man darf nicht warten, dass die Migranten plötzlich die Stadttheater entdecken, sondern man muss raus aus den Institutionen und auf die Menschen zugehen.
Frage: Welche Bedeutung haben Künstler und Kunst denn noch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung?
Antwort: Künstler in Deutschland zu sein ist durchaus ein akzeptabler Status. Und es ist auch nicht so, dass die Künstler in Deutschland nichts zu sagen haben - es sind nicht nur die Herren Grass und Wallraff, die sich politisch einmischen. Was aber verloren geht in den europäischen Ländern, ist der Hunger nach Kunst. Wir sind ziemlich satt geworden. Ich erlebe vor allem in Nordafrika und arabischen Raum, dass neu darüber nachgedacht wird, welche Konzepte es in der Kulturpolitik braucht. Es gibt Arbeitsgruppen in Tunesien, Marokko und Ägypten, die rausgehen aufs Land und schauen, was es dort noch an Volkskultur gibt.
Wir könnten in Deutschland von anderen Gesellschaften lernen, die sich unter schlechteren Bedingungen neu auf den Weg machen. Aber ich habe die Befürchtung, dass ein Teil der Bevölkerung, wenn es bei uns zu schlechteren Zeiten kommt, sagt, die Oper interessiert uns nicht mehr. Dem müssen wir zuvorkommen.
Frage: Aber genau dafür muss Kunst sichtbarer werden?
Antwort: Auch die Oper muss auf die Straße, sie muss dauerhaft in den Schulen verankert sein. Das muss völlig selbstverständlich sein. Und man sollte vielleicht einen kleineren Spielplan aufstellen, aber dezentralisiert und mit den Menschen, auch mit denen, die sich kulturell bisher noch nicht zu verständigen wussten. Da liegt die große Chance. So könnte perspektivisch eine Nachfrage erzeugt werden nach einer anderen Kunst, die nach dem Sinn des Lebens fragt.
Frage: Was müssen Künstler und Kulturpolitik im politischen Umbruch tun?
Antwort: Es gibt Künstler, die eine politische Bewegung begleiten, das fasziniert uns, weil sie ihr Leben riskieren, indem sie singen oder tanzen oder Texte veröffentlichen. Wir müssen das auf uns zurückbeziehen und schauen, was beispielsweise in der kommunalen Kulturpolitik schiefläuft: In Berlin werden die Opernhäuser jede Krise überleben, aber die 15 000 Gemeindebüchereien sind gefährdet. Da bricht etwas weg, aber nirgendwo bricht etwas auf. Die künstlerische Arbeit in Krisenregionen ist ein Vorbild für uns in dem Sinne, dass wir wieder lernen müssen, die Errungenschaften unserer Kulturlandschaft zu würdigen und zu verteidigen.
ZUR PERSON: Wolfgang Schneider ist nach Angaben der Universität Hildesheim Deutschlands erster und bisher einziger ordentlicher Universitätsprofessor für Kulturpolitik. Der 60-Jährige lehrt und forscht am Institut für Kulturpolitik, dessen Gründungsdirektor er ist.