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Brüllende Männer und folkloristisches Urgestein

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Das Tanz&FolkFest Rudolstadt fand in diesem Jahr zum zehnten Mal statt · Eine Bilanz
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Viel zu oft steht die in Rudolstadt gebotene Musik im Abseits der Kulturpolitik. Dabei muss man die Zahlen des TFF (siehe unten) nur richtig lesen: dieses Mammutunterfangen scheinbar alternativer Kultur bringt es auf fast 78 Prozent Eigenleistung – davon träumt mancher Orchesterintendant.

Das 10. „TFF“ im thüringischen Rudolstadt/Saale belegte vom 7. bis 9. Juli erneut, dass es Leute gibt, die sich für Musik im Dunstkreis von Folklore und World Music interessieren, hatten doch von rund 60.000 Besuchern immerhin 15.000 im Vorverkauf Dauerkarten bestellt, ohne das Programm genauer zu kennen. Der Vertrauensvorschuss erwies sich als vollauf berechtigt, auch wenn es dieses Jahr weniger große Namen auf dem Programm gab. An über 20 Spielstätten war Altes, Neues und Ungeahntes zu hören mit dem Vorteil, dass manche Gruppe mehr als einmal auftrat, was die Qual der Wahl verringerte.Viel zu oft steht die in Rudolstadt gebotene Musik im Abseits der Kulturpolitik. Dabei muss man die Zahlen des TFF (siehe unten) nur richtig lesen: dieses Mammutunterfangen scheinbar alternativer Kultur bringt es auf fast 78 Prozent Eigenleistung – davon träumt mancher Orchesterintendant.Neben einem Länderschwerpunkt (England), dem jährlichen „Instrumentenspecial“ (diesmal: die Stimme), einem Nachwuchspreis und diversen Workshops sowie Vorträgen gab es auch einfach „nur“ Konzerte. Zum Zehnten hatte man sich vorab noch ein internationales Symposium „Folk Music in public performance“ gegönnt, zum England-Thema eine Ausstellung mit Dokumenten des englischen Folk-Revivals und sogar eine Art Kunstausstellung. Plakate, Transparente und Hinweisschilder tragen seit 1991 unverkennbar die Handschrift des Grafikers Jürgen B. Wolff, musikalisch selbst ein Urgestein der (DDR-)Folkszene.

Es ist unmöglich, über alles zu berichten, wie es unmöglich war, wirklich alles mitzubekommen. Selbst die zahlreichen Rundfunkanstalten dürften damit Probleme haben, auch die elf ARD-Anstalten unter Federführung des „Hausherrn“ MDR-Kultur. Zuvor aber kurz einiges zur Vorgeschichte: 1955 gab es in Rudolstadt das „1. Fest des deutschen Volkstanzes“, das im zweijährigen Rhythmus eine (Ost-)Internationalisierung erfuhr. Von den Ostkontakten und von der Infrastruktur (Zeltplätze) profitiert man heute noch. Die tanzfreudige DDR-Folkszene, unorganisiert und eher aufmüpfig, hielt nur losen Kontakt zu den Tanzfesten. Nach der Wende war klar, verordnete Festlaune solle es nicht mehr geben. Die neue Kulturdezernentin Petra Rottschalk schreibt die Stelle eines Festivaldirektors aus, und mit dem Leipziger Musiker und Organisator Ulrich Doberenz geht der Job an den „obers-ten Folkie der DDR“. Im Herbst 1990 trifft sich Profolk, der Dachverband der bisher westdeutschen Folkszene, in Bad Hersfeld und lädt dazu Gleichgesinnte aus dem Osten ein. Doberenz ist auch da und bietet das zu entrümpelnde Fest als Podium an. Gut anderthalb Jahre später, im Juli 1991, startet leicht chaotisch das erste TFF und setzt sich sofort mit an die Spitze vergleichbarer europäischer Festivals. Ein internationales Programm zieht 40.000 Besucher an, der Bürgermeis-ter erklärt, das gebe es nun jährlich (statt wie geplant alle zwei Jahre).

Nun ist das TFF zehn Jahre alt, manche Musiker sind mehrfach da gewesen, aus geradezu wahnwitziger Planung ist Routine geworden, doch das eigentliche Programm ist so frisch, so vielseitig und so offen wie beim ersten Mal.

Dumitru Taki Vr“ncianu ist ein alter Geiger aus dem Norden Rumäniens. Zu seinem urigen selbstgebauten Instrument mit Schalltrichter bedient er eine Fußmaschine für den Rhythmus und kann zugleich noch mit dem Mund Klarinettenähnliches artikulieren – alles im atemberaubenden Tempo seiner Heimat. Diesen skurrilen Einzelgänger traditioneller Musik kontrastierten etwa die 37 Männer von Mieskuoro Huutajat, finnisch für „Brüllender Männerchor“. Grundidee: finnische Schlager von der störenden Musik entkleiden, Ernst Toch („Fuge aus der Geographie“) hätte seine wahre Freude gehabt; rhythmisch deklamierend ging es in diverse Himmelsrichtungen, Schuberts „Winterreise“ oder die amerikanische Hymne blieben so unverschont wie „Tirol, du bist mein Heimatland“. Ähnlichen Klamauk bot das Sextett Lecker Sachen („Rein mit dem Folk in den Hip-Hop!“), und irgendwie gehörten die drei kanadischen Inuits mit ihren „Katajjak“-Spielliedern a cappella auch dazu: wer zuerst lacht, hat verloren.

„Tamburinate“ sind neapolitanische Gesänge zu heftiger Perkussion. Ich erlebte das Trio Gacha Empega nur als Duo, dem dann noch zwei Tamburinschwenker des algerischen Teams El Hillal zu Hilfe kamen. Unisono und zweistimmig, dann im Wechselgesang steigerte sich die Minicombo fast in mediterrane Extase. Völlig diszipliniert hingegen blieben die vier Sängerinnen von Eva mit ihren kunstvoll gesetzten bulgarischen Liedern; begeis-tert nahm das Publikum diese Solis-tinnen von „Le Mystére des Voix Bulgares“ auf, dem Frauenchor des Bulgarischen Staatsfernsehens. Balfa Toujours spielten traditionelle „musique cajun“ aus Louisiana, das „Streichquartett“ Kapela ze wsi Warszawa (Kapelle aus dem Dorf Warschau) mit seinen beiden Perkussionis-ten und mehrstimmig intonierten Liedern bot ein Mordsspektakel, und dank Annbjörg Lien war auf der Hardanger-Fidel (quasi: d’amore) norwegische Virtuosität zu hören, die gleichwohl rein traditionelle Musik bot. Folklore aus Schleswig-Holstein, Obertongesang aus Vietnam, marokkanische Gnawa-Musik – was fehlt noch? Genau: kubanische Musik war in allen Kinos, und in Rudolstadt waren Los Jubilados, neun alte Herren (zusammen 624 Jahre), eine original kubanische Tanzcombo, die sofort von den Stühlen riss. Und natürlich gab es diverse Ensembles mit Tänzen aus ihrer Heimat.

Die erwähnten und angedeuteten Konzerte und Auftritte sollen verdeutlichen, welch ungeheures Programm geboten wurde (Dauerkarte im Vorverkauf 70 Mark!). Hinzu kommt das Ambiente des ständig weiter sanierten Städtchens mit Plätzen, Brunnen, großem Schloss und großem Park, was den Besuch des TFF Rudolstadt so liebenswürdig und so kommunikativ macht.

Das TFF Rudolstadt in Zahlen

  • 975 Musiker in 97 Gruppen
  • 260 Auftritte
  • zirka 600 Mitarbeiter
  • zirka 70 km verlegte Kabel
  • 1,8 Mio. Mark Gesamtkosten
  • davon 450.000 Mark Gagen inklusive Reisekosten
  • 1 Mio. Mark Einnahmen: Kartenverkauf, Memorabilia
  • 200.000 Mark Zuschuss Stadt
  • 200.000 Mark Zuschuss Land
  • 200.000 Mark Einnahmen: Gastronomie (Konzessionen)
  • 200.000 Mark Einnahmen: Rundfunk, Sponsoring

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