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Foto: Martin Hufner
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Die Zerstückelung liegt in der Autonomie des Hörers

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Ein Gespräch mit Johannes Bultmann, Künstlerischer Gesamtleiter von SWR Classic
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Schöne neue Klassikwelt. Sie ist vor allem eines: digital. Mit Konzertstreams, Digital Concert Halls, Apps, Aktionen in den sozialen Netzwerken und vielem anderen mehr stellt sich die altehrwürdige Branche des klingend Schönen, Wahren und Guten den Herausforderungen des technologischen wie des sozialen Wandels. Dem Druck des Digitalen begegnet der SWR mit SWR Classic, und ausnahmsweise soll hier nicht von Orchesterschließungen die Rede sein, sondern davon, wie der SWR, einmalig für die ARD, seine Klangkörper, seine Festivals und seine Netzaktivitäten in das alles übergreifende, eben: Netz von SWR Classic ein- und verwoben hat.

 Ist das der Zug der Zeit für die Klassik? Die Digitalisierung fährt unter Volldampf, und das Analoge wird abgehängt? Sicher, vieles ist notwendig, manches zu verschmerzen, manches nicht. Beispielsweise dass bei den ARD-Klangkörpern klassisch-romantisches Standardrepertoire wie der „Elias“ oder die Missa solemnis mittlerweile unter Ausnahmen figurieren. Auch kritisch zu betrachten: das schon bei den alten Medien Radio und Fernsehen problematische Verhältnis von Konzentration und Zerstreuung, Werk und Fragmentierung. All das Fragen zur Zukunft der Klassik, die die nmz auch weiterhin stellen wird. Das Gespräch mit Johannes Bultmann führte Bojan Budisavljevic.

neue musikzeitung: Kürzlich hat der SWR Neuland beschritten, indem er grundlegend seine Struktur verändert und die nach den so genannten „Ausspielwegen“ TV und Radio getrennten Direktionen abgeschafft hat zugunsten thematisch und medienübergreifend agierender Direktoren für Information und Kultur. Sie, Herr Bultmann, sind als Künstlerischer Gesamtleiter für die Klangkörper und Fes­tivals des SWR verantwortlich sowie zugleich für SWR Classic und das entsprechende Online-Angebot. also ein medienübergreifender Direktor im Kleinen, und das schon seit Ende 2013. ­– Hatten Sie hier eine Vorhut-Funktion, und beschreiben Sie bitte Ihre medienübergreifende Architektur, deren virtuellen Bauteil SWR-Intendant Boudgoust  als „eine  neue Heimat“ bezeichnet?

Johannes Bultmann: Als ich im September 2013 beim SWR anfing, war mir schnell klar, dass die künstlerisch-musikalischen Eigenaktivitäten der Ensembles und Festivals des SWR nicht entsprechend ihrer nahezu einzigartigen Bedeutung medial wahrnehmbar und in der breiten Öffentlichkeit nicht als geballte Klassik-Kompetenz  zu erkennen waren. Die Radio-Musikredakteure von SWR2 unterstützten unsere Aktivitäten am Radio hervorragend. Dagegen fanden Konzerte im Fernsehen nur marginal bis gar nicht statt und wenn man etwas über die SWR-Ensembles oder SWR-Festivals online suchen wollte, dann landete der Interessent – wenn er nach sieben Klicks und langem Suchen nicht längst entnervt aufgegeben hatte – auf einer ziemlich leblosen Internetseite. DAS konnte es aus meiner Sicht nicht sein. Der SWR verfügt unter anderem über das SWR Symphonieorchester, das SWR Vokalensemble, das Experimentalstudio, über eine Big Band, über Festivals wie Donaueschingen und Schwetzingen mit in Szene gesetzten Opernuraufführungen. Welch ein Sender – selbst international – kann dies von sich sagen? Es galt also, nicht nur senderintern hierzu ein neues Bewusstsein zu entwickeln, sondern sich für eine eigenständige Marke im Sender, nämlich SWR Classic, zu entscheiden und dieser Marke wiederum eine eigenständige Online-Welt zu ermöglichen, als Ergänzung  zur Radiowelt. Ich habe dies alles mit auf den Weg gebracht, bin aber nicht verantwortlich für diese Online-Welt, da sie redaktionell aufgestellt ist. Mit der neuen Marke und dem neuen Corporate Design sowie der Online-Medialität und den rund 30 Konzertstreams als Video-on-Demand pro Saison – wohlgemerkt kos­tenfrei zu erleben – sind wir seit September am Start und Herr Boudgoust hat absolut Recht, dass hier neben dem Radio die SWR-Ensembles und Festivals eine neue Heimat gefunden haben. Ob wir hier eine Vorhut-Funktion hatten, möchte ich eher bezweifeln. Dass der gesamte Sender sich neu aufstellt, ist sehr klug, liegt aber auch seit Jahren in der Luft und entspringt dem veränderten Rezeptionsverhalten der Menschen und der Medientechnologien.

nmz: Welche Rolle genau spielt da noch der klassische Rundfunk, das Radio und UKW? Und, wenn nun die Klangkörper ihre medialen Wege selber bespielen, welche Funktion genau haben da noch die bestehenden Musik­redaktionen von SWR2?

Bultmann: Der klassische Rundfunk, das Radio spielt eine unverändert große Rolle. Die Konzerte, die Festivals werden ja weiterhin mit gleicher Kraft und Leidenschaft und Kompetenz im Radio stattfinden. Die Online-Welt von swrclassic.de ist ja nicht konkurrierend oder als Ersatz für das Radio gedacht, sondern als mediale Ergänzung, als Erweiterung von Möglichkeiten und Zugängen. Im linearen Radio sind Sie als Hörer an vorgegebene Sendezeiten gebunden. Unser swrclassic.de-Claim „Klangvielfalt erleben – jederzeit online“ bringt es ja sprachlich auf den Punkt: Der Hörer/Zuschauer entscheidet selbst, wann er etwas hören beziehungsweise auch sehen möchte, egal zu welcher Tag-Nacht-Zeit oder in welchem Monat.

nmz: Auf dem Weg, die Trimedialität strukturell zu implementieren, schreitet der SWR entschieden voran. Bei Ihnen kommt ein viertes Medium hinzu: das alte und analoge Live-Konzert. Nun war dessen Verhältnis zu Übertragungs- und Speichermedien immer schon ein zwiespältiges: Sendung wie Wiederholbarkeit wurden stets erkauft, um den Preis der Reduktion – der Aura wie der Akustik. Wie steht es also, um ein Wort Ihres Intendanten umzuwandeln, mit dieser „alten Heimat“? Ich frage nach dem genauen Verhältnis dieses Alten zu den neuen medialen Möglichkeiten der Musik: Wo ist ihr Ort?

Das Live-Konzert wird bleiben

Bultmann: Eine sehr interessante und sehr wichtige Frage, die wohl auch impliziert: Wie steht es um die Zukunft des Konzertes überhaupt. Ich persönlich gehöre nicht zu den Vertretern, die uns seit über 20 Jahren in der totalen Klassik-Krise sehen. Nach den Boom-Jahren der Umstellung von Platten auf CDs haben die Labels eine Krise gehabt­, die war allerdings völlig erwartbar. Wenn man den Statistiken vertrauen darf, so ist die Besuchernachfrage im Konzertbereich gewachsen. Schauen wir uns doch einmal um, wie viele neue Festivals und sogar Konzertorte entstanden sind. Allein im Ruhrgebiet: Vor 30 Jahren gab es überwiegend die Konzerte der städtischen Orchester vor Ort in alten Sälen. Seit einigen Jahren gibt es dort Neubauten: Die Philharmonie in Essen, das Konzerthaus Dortmund, das Haus in Duisburg, das neue Konzerthaus in Bochum, das internationale Klavierfestival Ruhr und die weltweit beachtete Ruhr-Triennale –… das ist für eine Region ein gigantischer Aufbruch, eine begleitende Neuerfindung einer Region, das Publikum wurde gefunden. Krise? Die Elbphilharmonie in Hamburg ist für die erste Saison in der Ticketnachfrage überbucht. Das wird auch die nächsten Jahre dort ähnlich sein. Gleiches wird in München mit dem Neubau passieren. Ähnliches wäre bei einem Neubau einer Philharmonie in Stuttgart erwartbar.

Kurz: Das authentische, einmalige Erleben eines Live-Konzertes im Konzerthaus wird immer bleiben. Städtebaulich werden Reaktionen wie Neubauten von Konzerthäusern kommen müssen. Die neue Architektur wird dafür sorgen müssen, dass ein Orchester sehr nah zu erleben ist und dass das Hören in bester Akus­tik erfahrbar ist. Unsere Seh-und Hörerwartung hat sich durch die neuen medialen Techniken weiterentwickelt und will in Konzertsälen eine Entsprechung finden. Die Trendforschung sagt klar, dass allein schon als Wirtschaftsfaktor, bedingt durch unter anderem noch weiter zunehmende Mobilität, Kultur eine bedeutende Rolle spielen wird, vorausgesetzt, städtebaulich werden mit ansprechender Architektur die Voraussetzungen für ein besonderes, nahes Konzerterleben geschaffen.

nmz: Wie verhält es sich aber damit, dass eine Totaldigitalisierung der Inhalte, wie der Musik beispielsweise, eine totale Fragmentierung und Zerstückelbarkeit dieser Inhalte mit sich bringt? Schon beim alten Rundfunk standen tagesbegleitende Durchhörbarkeit und das „ganze Werk“ im extremen Widerspruch zueinander. Dank Digitalisierung ist aus der Durchhörbarkeit eine totale Verfügbarkeit von Musik geworden – überall und jederzeit. Was hier für manche Musik ganz vorteilhaft sein mag, wirkt sich bei der komplexeren, wie zum Beispiel bei der Klassik oder der Neuen Musik, nachteilig aus: Weder Bruckners Achte noch Nonos „Canto sospeso“ können in Häppchen auch nur annähernd realisiert werden. Wie sehen Sie persönlich beziehungsweise bei SWR Classic hier die Zukunft des Genres?

Bultmann: Das sehe ich gar nicht so wie Sie. Ich gehe vom mündigen Bürger aus. Wenn ihm Nono im Live-Konzert nicht passt, „schaltet er innerlich ab“ oder er verlässt den Saal beziehungsweise er  geht in der Pause oder er schaltet vor dem Radio sitzend das Radio aus beziehungsweise er beendet den Video-Stream vor dem TV-Monitor. Die Zerstückelung liegt in seiner Autonomie. Auf der anderen Seite bietet die Digitalisierung Vorteile: Die Online-Welt ist nicht durch zeitliche Sendenormen eingeengt. Ein Werk kann sechs Stunden dauern, ohne dass im Radio oder Fernsehen der ganze Programm-Betrieb außer Kraft gesetzt werden muss. Man kann zudem bestimmte Takte, Passagen zum mehrmaligen Hören und besseren Verständnis immer wieder gezielt ansteuern.

nmz: Vermittlung ist bei SWR Classic eine eigenständige und gleichberechtigte Abteilung. Ist das mehr als marktorientiertes Audience Development? Denn, um im Sinne eines echten Bildungsauftrags zu wirken, müsste deren Arbeit über Jahrzehnte gesichert sein, allein um die vergangenen Jahrzehnte der musikalischen De-Alphabetisierung wieder aufzuholen.

Bultmann: Vermittlung spielt für uns eine zentrale Rolle und ich gehe davon aus, dass die Vermittlung gesichert ist.  Wir sprachen eben von der sogenannten Klassik-Krise, die ich nicht sehe. Was ich aber sehe, ist, dass die musikalische Bildung vom Kindergarten bis zum Schulabschluss nicht mehr gegeben ist. Dass Instrumentalunterricht und das Musizieren zu Hause eher die Ausnahme als die Regel ist und quasi vom Aussterben bedroht ist. Dass wir einen Wertewandel in der Gesellschaft haben und damit einen Wandel an Interessen und Freizeitgestaltung und damit wiederum an Ich-Identifikation. Die von Ihnen angesprochene musikalische De-Alphabetisierung können wir weder aufholen noch aktuell egalisieren. Dennoch, wie Sisyphos – den wir uns bekanntlich als glücklichen Menschen denken sollen – müssen wir Tag für Tag Kleinkinder, Schüler und Jugendliche erreichen, um bei ihnen die musikalische Saat emotional zu verankern. Hier kompensieren wir in der Tat den staatlichen Bildungsauftrag der Schulen. Und hier haben sich Verantwortungen auf die Veranstalterseite und die Künstler verschoben. Um nicht tatsächlich in einer Klassik-Krise zu landen, müssen wir sehr kreativ und sehr aktiv entgegensteuern. Um aber an dieser Stelle auch mal ein Positiv-Beispiel pro Musik anzuführen: Was die Landesregierung in NRW mit JeKi auf den Weg gebracht hat, ist für mich ein politisches Wunder in der Musikgeschichte. Es geht also, wenn die Politik will. Ich hoffe, dass andere Bundesländer nachziehen.
Insgesamt sehen wir Vermittlung jedoch viel breiter definiert, nicht auf das schulpflichtige Alter reduziert. Wir möchten das demografische Spektrum unserer Gesellschaft erreichen, will sagen: Mittfünfziger als eventuelle Klassikwiedereinsteiger sowie aktive Senioren als auch Menschen und Senioren mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen. Musikgeragogik sei als Stichwort genannt. Zudem sehen wir auch eine gesellschaftliche Aufgabe in unserem Wirken, um vor dem Hintergrund der Kriegsflüchtlinge und Migranten Teilhabe an unserer Musikkultur zu ermöglichen und zwischenmenschlich Brücken zwischen den Kulturen zu bauen. Nicht ohne Grund haben wir unsere Vermittlungsarbeit unter die Leitidee „Connected“ gestellt.

Klick und Quote

nmz: Haben Sie schon verlässliche Nutzungszahlen für die digitalen Angebote von SWR Classic und wie deuten Sie diese?

Bultmann: Selbstverständlich liegen uns Nutzungszahlen vor. Nahezu ist ja jede Cursor-Bewegung im WorldWideWeb zu analysieren, jeder Klick. Es gibt nirgends so zuverlässige Nutzungsempirie wie in der digitalen Welt. Wir sind sehr zufrieden über den Neustart, was aber nicht heißt, dass wir uns nicht täglich weiter verbessern wollen, neue Ideen kreieren wollen. Letztlich wird man aber erst in vielleicht drei Jahren eine solide Auswertung vornehmen können. Das wäre jetzt verfrüht. Klar ist auch, dass man mit den Nutzungszahlen verantwortungsbewusst umgehen muss. Man läuft schnell Gefahr, alle Aktivitäten dem Ranking der Klicks zu unterwerfen, also einer Quote. Das würde schnell in eine Sackgasse führen, anstatt das nahezu grenzenlose Netzvolumen auch und besonders für eher  musikalische Nischenbereiche zu öffnen.

nmz: Abschließend zur Zukunft der Klangkörper selbst: Das neuformierte SWR Symphonieorchester benötigt, um weiter zusammenzuwachsen, nicht zuletzt ein künstlerisches Profil, sprich einen Chefdirigenten. Wie sehen da der Stand und Ihre weiteren Planungen aus?

Bultmann: Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Das Profil des Orchesters wird vom SWR beziehungsweise vom künstlerischen Management des Orchesters definiert und entsprechend werden Dirigenten und Programme konzipiert. Ansonsten hätte man ja mit jedem Chefwechsel ein neues Profil. Das Profil ist klar definiert und entspricht der künstlerisch-musikalischen Ausrichtung des SWR, die an der Avantgarde orientiert ist, unter anderem 13 Uraufführungen in der laufenden Saison mögen ein Indiz sein. Besonders werden wir außerdem die Interpretationsansätze aus der historisch informierten Aufführungspraxis weiter fortsetzen. Wir halten es mit Pierre Boulez, wenn er sagt: Spezialisierungen, wie sie so selbstverständlich geworden sind, sollte man eigentlich vermeiden, weil man der Musik damit immer einen Teil ihrer Geschichte nimmt.Wir sind uns mit den Orchestervorständen einig, dass sich die Musiker im neuen Orchester zunächst selbst erst finden und positionieren sollten, bevor wir uns mit Namen und Persönlichkeiten eines möglichen Chefs befassen.

nmz: Das SWR Vokalensemble, das unter dem vorigen Intendanten öfters mal zur Disposition stand, hat einen phänomenalen Ruf als Spezialensemble für Modernes und Zeitgenössisches. Ist seine Zukunft gesichert? Wenn ja, was erfreulich wäre, so bliebe ein Wermutstropfen, dass es nämlich für klassisch-romantische Schlüsselwerke einfach zu klein ist. Wie verhält sich das zum Anspruch, die ganze Breite der Musik anbieten zu können?

Bultmann: Das SWR Vokalensemble ist ein unverzichtbares Juwel neben den weiteren Juwelen von SWR Classic. Es genießt weltweit einen phänomenalen Ruf. Ich kenne keine Planungen für eine Abschaffung oder Auflösung. Bei Großbesetzungen, egal für welche Epoche, verstärken wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen ARD-Anstalten, was auch in umgekehrter Richtung praktiziert wird und eine sinnvolle Zusammenarbeit der ARD darstellt.

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