Wenn Sie heute tagsüber eines der ARD-weit angebotenen Kulturradios einschalten, finden Sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit in einer moderierten Magazinsendung mit einem kurzweiligen Musikprogramm, kulturellen Beiträgen aber auch Nachrichten, Wetter und Verkehr wieder. Diese Magazinsendungen reihen sich zwischen den frühen Morgen- und Abendstunden mehr oder weniger nahtlos als sogenanntes Tagesbegleitprogramm aneinander – es heißt so, weil es mit Rücksicht auf die Gewohnheiten und Alltagsbedingungen der durchschnittlichen Konsumenten entwickelt wurde.
Dabei kommt es nicht darauf an, möglichst viele Wünsche einzelner Hörer zu berücksichtigen, sondern den kleinsten gemeinsamen Nenner aller potenziellen Hörer auszumachen. Daraus wird dann konsequent ein als Markenzeichen wiedererkennbares Gesamtprogramm kreiert. Allseits bekannt sind solche Programmkonzepte von den Pop-Rock-Massenwellen. Angesichts schwächelnder Quoten und überalterter Hörerstämme nahmen sich um die Jahrtausendwende auch die Kulturradios ein Beispiel am Erfolg dieser Formate.
Eines der ersten und auch extremsten Beispiele dafür, wie sich ein öffentlich-rechtliches Kulturradio mithilfe des Tagesbegleitprogramms und musikalischem Crossover auf Quote trimmte, war das Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks, MDR Kultur. Unter dem neuem Programmnamen MDR Figaro, der (bis zur namentlichen Rolle rückwärts im Juli 2016) das Wort „Kultur“ im Haupttitel lieber außen vor lassen sollte, und einem bunten Magazinprogramm mit Lifestyle-Themen wie Mode, Reisen, Essen und Trinken und einer „besonderen Musikmischung“ von Bach bis zu den Beatles, dehnte man charmant den bis dato eher (str)eng ausgelegten Kulturbegriff stetig weiter aus. Das Kulturradio der Gegenwart sollte keinerlei Vorkenntnisse bedürfen. Durch einen schwach dosierten, aber ganz uneitlen Umgang mit klassischer Musik, frei vom elitären Nimbus, sollte auch ein weniger mit Hochkultur sozialisiertes Publikum für klassische Musik interessiert werden. Bis heute begreift der Sender eine Gewichtung von etwa 30 Prozent Klassik zu 70 Prozent sogenannter „anspruchsvoller Popmusik“, Jazz, Chanson und Weltmusik im Crossover-Mix als brückenschlagendes Bildungskonzept. Es gibt aber auch einige Zweifel daran, dass sich mit einem Crossover-Kanon im Kontext von Tagesbegleitprogrammen ein milieuübergreifendes Interesse an klassischer Musik wecken lässt. Denn er verträgt ausschließlich sehr leicht zugängliche, wenig innere Spannung erzeugende Musik, damit keine intellektuellen Hemmschwellen oder gar Ausschaltimpulse entstehen. Der Klangfluss soll so unaufdringlich und kurzweilig wie möglich sein und durch nichts gestört werden, was zu viel Auseinandersetzung hervorrufen könnte. Mit polarisierenden Inhalten würde der Verlust von Teilen der Zielgruppe riskiert.
So bleibt im Tagesbegleitprogramm von MDR Kultur zwar die meiste Sendezeit der Musik vorbehalten, stündliche Nachrichten, Moderationen, Beiträge, Service und Einspieler zerklüften die Sendefläche aber so stark, dass die Musiktitel zwangsläufig kurz ausfallen müssen. 1’30-Minüter sind keine Seltenheit, mehr als 3’30 sind zur Primetime nicht drin und bis 19 Uhr ist kaum ein Titel zu hören, der an die fünf Minuten heranreicht. Es wird schlicht davon ausgegangen, dass der Lebensrhythmus weiter Teile des Hörerkreises mehr als drei Minuten derselben Musik nicht mehr toleriert. Allein dadurch fällt bereits ein gigantischer Teil der eigentlich verfügbaren Musik aus dem Konzept heraus – klassische Musik sogar noch weit umfangreicher, denn vor der Erfindung des Radios ahnte wohl kaum ein Komponist, dass sich seine Werke einmal am Drei-Minuten-Takt bemessen lassen müssten.
Die Länge ist aber nicht das einzige Kriterium, an dem ein Stück bemessen wird, um einen der begehrten Plätze in der Rotationssoftware des Tagesprogramms zu bekommen. Alle Titel müssen in den Basis-Sound der „Leitfarbe Klassik“ passen und sich in Tempo, Gestus und Tonart gut mischen lassen. Weil größere dynamische Unterschiede den meisten Hörern mutmaßlich auf die Nerven fallen, werden auch nur solche Titel ausgewählt, die nicht oder nur wenig gepegelt werden müssen. Wieder schlechte Karten für klassische Musik, die sich oft durch besonders große dynamische Spannweiten auszeichnet. Eine Analyse der Beats per Minute von beliebigen Musiktiteln der Playlists von MDR Kultur zeigt außerdem, dass beinahe ausschließlich ein bestimmter Typus heiter-flotter Klassiktitel gespielt wird – mindestens ‚Allegro‘. Damit wird das Tempo gemacht. Im Wechsel mit langsamen, meist älteren Rock/Pop-Balladen, Singer/Songwriter-Liedern, Chansons und Jazz-Standards ergibt sich eine mäßige Fließgeschwindigkeit.
Unter den verbliebenen 30 Prozent Klassik im Tagesprogramm sind kaum Werke mit Singstimme zu finden, im besten Fall ein Gassenhauer aus der Alten Musik mit Counter-Superstar Philippe Jaroussky. Sonst kein Chor, kein Kunstlied, auch keine Oratorien-, nicht mal eine Operettenarie. Für den vokalen Musikanteil sind die anderen 70 Prozent mit Pop/Rock, Chanson, Jazz und Weltmusik zuständig. Übrig bleiben im Bereich Klassik also Instrumentalstücke. Diese Essenz war bestimmt gemeint, als MDR Figaro 2004 sein neues Programm mit „ausgewählter Musik aus 500 Jahren ‚Klassik‘“ bewarb. Wieviel davon wird es wohl geben, die es unter drei Minuten bis zum letzten Ton schafft und dazu noch für gute Stimmung sorgt? Zwischen 6 und 19 Uhr rotieren im Pool insgesamt 6.000 bis 7.000 Titel. Der Pool der ersten Prime-Time zwischen 6 und 9 Uhr enthält sogar nur etwa 3.000 Musiktitel. Das macht etwa 900 potenzielle 3-Minuten-Titel im Bereich Klassik. Klingt viel? Es reicht immerhin für einen Monat Frühprogramm. Mit Sicherheit ist diese Zahl aber zu klein, als dass sich damit der ohnehin schon schwammig klischeebehaftete Begriff „Klassik“ auch nur rudimentär abbilden ließe, könnte er doch eigentlich einen Fundus von weit über 1.000 Jahren überlieferter Werkgeschichte meinen. Die Komponisten des Barock ahnten die Zukunft vielleicht am besten voraus, denn aus dieser Epoche gibt es die größten Klassik-Anteile im Tagesprogramm. Wesentlich seltener sind da schon Stücke aus der Zeit der Klassik. Das 19. Jahrhundert wird gern durch kleine Klavierstücke – Etüden, Préludes und Intermezzi – repräsentiert. Neue Musik im Tagesprogramm ist quasi ausgeschlossen.
Das Musikprogramm von MDR Kultur zeichnet sich über den Tag also nicht durch eine besonders große Bandbreite und Vielfalt, sondern durch einen störfallfreien Sound-Stream aus. Welcher Künstler oder welche Musik ‚geht‘ oder eben nicht ‚geht‘, wird allein durch den optimalen Klangfluss bestimmt. Und weil es die Musik so leicht mit sich machen lässt und sich wunderbar zum Ritzen füllen und als Schmier- und Bindemittel für einen möglichst flüssigen Ablauf eignet, geht es im Tagesbegleitprogramm auch nur noch selten darum, Musik in ihrer formellen Anlage, als Werk mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende oder als kulturhistorisches Zeugnis zu begreifen, geschweige denn ähnliches auch in Moderationen zu vermitteln. Es geht nurmehr um Klangfarbe und Wirkung.
Aber wen interessiert es schon, ob gerade das ‚Allegro molto‘ aus dem D-Dur Konzert von Johann Stamitz läuft oder das ‚Allegro‘ aus der Sinfonia A-Dur von Leopold Mozart, wenn es nur angenehm in den Ohren ist? Die meisten Hörer können – so flüstert es die Marktforschung – mit solcherlei Information ohnehin nicht viel anfangen und würden Moderationen nicht vermissen. Großen Teilen der Hörer wird pauschal mangelndes Vermögen oder Interesse an kultureller Bildung bescheinigt. Diesem Rat folgend, gibt es beim Kulturradio des MDR bewusst auch nur noch spärlich musikalische Randnotizen. Der elitäre Sockel der Hochkultur wird also kaum mehr durch pädagogische Vermittlungsversuche abzusenken versucht, sondern im Gegenteil durch Kontaktvermeidung und Nicht-Zutrauen in immer unerreichbarere Sphären erhöht. Die latente Von-oben-herab-Attitüde gegenüber dem Publikum, die eigentlich vermieden werden sollte, weht so durch die Hintertür wieder herein.
Wer wider Erwarten doch mehr über die Musik wissen will, dem bleiben technische Errungenschaften wie die Einblendungen im Auto- oder Digitalradio oder die Online-Playlist. Die an der Musikmoderation gesparte Zeit wird lieber für eine stärkere crossmediale Vernetzung ausgegeben. Teaser sollen das Dranbleiben fördern und verweisen auf nachfolgende Programmpunkte oder laden zum Besuch der Webpräsenz ein – mehr Worte also für kaum einen inhaltlichen Mehrwert. Diese Funktionalisierung und Trivialisierung von Musik im Kulturradio findet sich in abgeschwächter Form in nahezu allen Kultur-Mischprogrammen der ARD: Laut internem Online-Schlagwortlexikon, dem ABC der ARD, bietet hr2-kultur „vor allem für jüngere Hörerkreise (…) modernes Kulturradio mit großflächigen Magazinen tagsüber“ und „eine genreübergreifende Auswahl an Musik, zu der neben Klassik auch Chansons, Jazz und anspruchsvoller Pop gehören“. NDR Kultur „bietet tagsüber in großflächigen, von populärer klassischer Musik geprägten Magazinen aktuelle Informationen über Musik, Theater, Film und Literatur wie auch über das allgemeine Zeitgeschehen. Stündlich gibt es Nachrichten“. SWR2 „orientiert sich an einem weit gefassten Kulturbegriff und bietet in leicht überschaubarer Struktur (…) E-Musik, Jazz und Wortsendungen.“
Dazu will nicht passen, dass Kunstmusik nur selten aus leichter Muße heraus und im Nebenbei entsteht, sondern Endprodukt höchst professionalisierter Schaffensprozesse ist. Komponisten und Musiker durchlaufen einige der aufwendigsten und teuersten Studien überhaupt. Zu keiner Zeit wurde
solch akribische Urtext-Forschung betrieben wie heute und eine Fülle von Originalklangensembles sucht deren Ergebnisse zu pflegen. Nicht zuletzt bemühen sich auch die den Kulturwellen angegliederten Rundfunkklangkörper um eine lebendige Musiktradition durch Konzertaktivitäten in den Sendegebieten – solange sie nicht aus Mangel an institutioneller Rückendeckung abgewickelt werden.
Doch abendliche Konzertübertragungen können nicht das Tageslicht am musikalischen Bildungshorizont ersetzen. Eine intellektuell weitgehend barrierefreie Gestaltung des Tagesprogramms hat bei MDR Kultur zwar die Quoten von 2004 bis heute um gute zwei Drittel gesteigert. Die Grenzen zu den Methoden und Prioritäten privater Programme sind dabei aber gefährlich verschwommen. Angesichts lauter werdender Grundsatzfragen nach Sinn und Unsinn der Öffentlich-Rechtlichen, die weit mehr als ihrer eigenen Wirtschaftlichkeit verpflichtet sein sollen, stünde es nicht zuletzt auch den Kulturprogrammen gut an, sich nicht länger der Quote und leichten Unterhaltsamkeit durch musikalische Selbstläufer anzubiedern – das übernehmen bereits die etablierten Massenwellen –, sondern sich wieder verstärkt als Plattform für auftragsrelevante und förderungsbedürftige Inhalte zu profilieren.
- Henriette Pfaender ist Autorin des Buches „Vom Zuhörradio zum Begleitprogramm. Öffentlich-rechtlicher Kulturfunk in der Fast-Food-Falle“ (Tectum Verlag, ISBN 978-3-828837-57-7).