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Frei? Arbeitnehmerähnlich? Scheinselbständig?

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Oder doch festangestellt?
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Das neue Schreckenswort der Freien heißt Scheinselbständigkeit. Auch im Musikbereich erzeugt es Unruhe, manchmal fast Panik: Auftraggeber stellen dreiste Fragen, kürzen Stundendeputate, kündigen Aufträge. Dabei kann das neue Gesetz – wenn es denn im Sinne des Gesetzgebers angewandt wird – die Lage der Freien entscheidend verbessern.

Das Problem war schon lange erkannt: Fast eine Million Menschen arbeiten in Deutschland als Scheinselbständige ohne soziale Absicherung, als Arbeitnehmer ohne Arbeitnehmerrechte. Auch der Wille des Gesetzgebers war eindeutig: „Der Mißbrauch der Scheinselbständigkeit [...] soll bekämpft werden“, heißt es in der Begründung des Gesetzes, das am 1.1.1999 in Kraft trat, und der Arbeitsminister präzisierte: „Wir wollen die Flucht der Arbeitgeber aus der Sozialversicherungspflicht stoppen.“ Auch Scheinselbständige haben künftig Anspruch auf einen Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung. Die Umsetzung aber sieht ganz anders aus: Da verbieten Zeitungen ihren Pauschalisten, weiterhin in Redaktionsräumen zu arbeiten; da sollen freie Fotografen eine GmbH gründen – mit 50.000 Mark Gründungskapital und dem einzigen Zweck, dem Auftraggeber die Beiträge zur Sozialversicherung zu ersparen. Und im Raum Dresden wollen Musikschulen ihren Lehrkräften den Unterrichtsauftrag auf sechs Wochenstunden kürzen – in der (irrigen) Annahme, sie fielen dann nicht mehr unter die Sozialversicherungspflicht. Und jetzt schimpfen alle auf das neue Gesetz. Die Unternehmer, der „Spiegel“ und auch die Freien sind empört. Dabei haben diese Beispiele mit dem neuen Gesetz wenig zu tun. Aber viel mit Unternehmen, denen beim Stichwort „neues Gesetz“ immer nur die Frage einfällt: „Wie kann ich das umgehen?“ Es gibt kein Gewohnheitsrecht auf Rechtsbruch Es geht bei diesem Gesetz um nichts Anstößiges. Es geht lediglich darum, daß Menschen, die eigentlich schon seit Jahren Anspruch auf einen Arbeitgeberzuschuß zur Sozialversicherung haben, diesen Zuschuß auch endlich bekommen. Es geht bei diesem Gesetz nicht einmal um etwas Neues. Denn für die Rechtsprechung war schon immer klar, daß zum Beispiel Orchestermusiker und (weisungsgebundene) Bandmitglieder in aller Regel Arbeitnehmer sind – auch wenn ihr Vertrag etwas anderes aussagt. Auch freie Musikschullehrerinnen, die dieselbe Arbeit tun wie ihre angestellten Kolleginnen, gelten versicherungsrechtlich seit eh und je als Arbeitnehmerinnen. Sie waren also schon immer über die Schule in der gesetzlichen Sozialversicherung zu versichern. Nur hat sich bisher niemand darum geschert. Dieses Gesetz soll nun dafür sorgen, daß auch die Unternehmen sich endlich gesetzeskonform verhalten. Für Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten schon immer korrekt den halben Beitrag zur Sozialversicherung gezahlt haben, ändert sich gar nichts. Unternehmen aber, die jetzt laut über „neue Belastungen“ schimpfen, offenbaren damit nur, wie massiv sie das Recht bisher gebrochen haben. Chance für Musikschullehrer und Musikerinnen Ob ein Arbeitnehmer zum „Freien“ erklärt und damit um seine Sozialversicherung gebracht wurde, das lag bisher in der Hand der Arbeitgeber. Wer sich dagegen wehren wollte, mußte beim Arbeitsgericht klagen und den Gegenbeweis antreten. Diese Beweislast kehrt das neue Gesetz um. Es betrachtet Freie, die bestimmte Kriterien erfüllen (siehe „Das neue Gesetz in zehn Schritten“), grundsätzlich als Arbeitnehmer. Der beweispflichtige Ausnahmefall ist nun, wenn Arbeitgeber ihre Scheinselbständigen nicht sozialversichern wollen. Freien Musikschullehrern und Musikerinnen, denen die Künstlersozialkasse bisher die Aufnahme verweigert hat, bietet das Gesetz also eine große Chance: Sie bekommen nicht nur Zugang zur gesetzlichen Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, sondern brauchen selbst auch nur den halben Beitrag zu zahlen. Das geht aber nicht von selbst. Da das Gesetz keine Schutzmechanismen gegen bösartige Auftraggeber vorsieht, sind die Betriebs- und Personalräte gefragt. Sie müssen sicherstellen, daß das Gesetz im Sinne der Scheinselbständigen umgesetzt – und nicht zu ihren Lasten umgangen wird. Dabei ist sicher die finanzielle Lage der jeweiligen Musikschule oder des Orchesters zu berücksichtigen. Aber als Begründung für gesetzwidrige Beschäftigungsverhältnisse reicht sie nicht aus. Da ist das neue Gesetz vor. So wird die Theorie in die Praxis umgesetzt Scheinselbständigkeit: Das neue Gesetz in zehn Schritten Seit dem 1. Januar 1999 gelten Freie nach § 7 Abs. 4 Sozialgesetzbuch IV als scheinselbständig, wenn sie mindestens zwei der folgenden Kriterien erfüllen: Sie sind im wesentlichen, das heißt zu mehr als 5/6 für ein und denselben Auftraggeber tätig, sie beschäftigten selbst keine Angestellten, sie sind mit typischen Arbeitnehmertätigkeiten betraut oder sie treten nicht „als Unternehmer am Markt“ auf. Scheinselbständige, die nicht nachweisen, daß sie wirklich selbständig arbeiten, müssen vom Arbeitgeber sozialversichert werden. Dabei gilt folgendes Verfahren: 1. Die Auftraggeber mußten den Krankenkassen bis zum 31.3.1999 alle Scheinselbständigen melden, die sie beschäftigen. Haben sie das unterlassen, müssen sie gegebenenfalls die Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen – und zwar den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmeranteil für bis zu vier Jahre! Von den Freien können sie in diesem Fall rückwirkend nur maximal drei Monatsbeiträge verlangen. 2. Um herauszukriegen, wer überhaupt scheinselbständig ist, dürfen die Auftraggeber ihre Freien befragen – auch per Fragebogen. Antworten müssen diese aber nur auf Fragen, die zur Beurteilung der vier Kriterien nötig sind, also zum Beispiel, wieviel Prozent des Gesamthonorars sie bei anderen Auftraggebern verdienen, ob sie Angestellte haben, ob sie studieren oder nebenberuflich tätig sind, ob sie in der KSK versichert sind. Fragen nach den Namen anderer Auftraggeber und dem dort erzielten Umsatz sind unzulässig. 3. Da viele Auftraggeber die Meldefrist versäumt haben, sind solche Fragebogenaktionen auch noch in nächster Zeit zu erwarten. Ob die Auftraggeber tatsächlich alle Scheinselbständigen gemeldet haben, das prüfen die Rentenversicherer im Rahmen von Betriebsprüfungen, die regelmäßig alle vier Jahre stattfinden. Prüfungen bei Freien sind von den Sozialversicherern nicht geplant. 4. Bei Leuten, die zwei (oder mehr) Kriterien für Scheinselbständigkeit erfüllen, wird vermutet, daß sie in Wirklichkeit Arbeitnehmer im Sinne des Sozialgesetzbuches sind. Sie müssen vom Auftraggeber zur Sozialversicherung angemeldet werden – es sei denn, „die Vermutung der Beschäftigung gegen Entgelt“ wird gegenüber der Krankenkasse widerlegt. Als Beweis reicht den Krankenkassen zum Beispiel die Mitgliedschaft in der KSK aus. KSK-Versicherte brauchen also der Krankenkasse gar nicht erst gemeldet zu werden – auch wenn sie zwei Kriterien erfüllen. 5. Ist die Vermutung der Scheinselbständigkeit widerlegt, so ändert sich gar nichts: Der Freie bleibt in der KSK und bekommt seine Honorare weiter in voller Höhe ausgezahlt. Wird die Vermutung nicht widerlegt, so stellt die Krankenkasse fest, daß der „Freie“ ein Arbeitnehmer im Sinne der Sozialversicherung ist und damit vom Arbeitgeber in der gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu versichern ist. Der Arbeitgeber kann ihn dann entweder als ganz normalen Arbeitnehmer anstellen, oder er zahlt ihm weiter „freies“ Honorar, muß davon aber den Arbeitnehmerbeitrag zur Sozialversicherung einbehalten. 6. In diesem Fall darf der Arbeitgeber die Beiträge jedoch nicht prozentual vom Honorar berechnen. Da nur die Einkünfte (Honorar minus Betriebskosten) versicherungspflichtig sind, werden die Beiträge aus den Einkünften des Jahres berechnet, für das der letzte Steuerbescheid vorliegt. Also: Der „frei“ honorierte Arbeitnehmer muß dem Arbeitgeber jeweils mitteilen, wie hoch seine Einkünfte aus der zu versichernden Tätigkeit nach dem letzten Steuerbescheid waren; der Arbeitgeber multipliziert diesen Betrag mit einem „Dynamisierungsfaktor“, teilt das Ergebnis durch zwölf und berechnet davon prozentual den Monatsbeitrag zur Sozialversicherung. 7. Solange die Arbeitnehmereigenschaft nicht verbindlich festgestellt ist und solange noch kein einschlägiger Steuerbescheid vorliegt, werden die Beiträge prozentual von der Bezugsgröße (für 1999 monatlich 4.410 Mark, im Osten 3.710 Mark), auf Nachweis aber auch von höheren oder niedrigeren Einkünften, und bei Berufsanfängern in den ersten drei Jahren auf Antrag von der halben Bezugsgröße berechnet. 8. Daß die Auftraggeber ihren Freien nur den Arbeitnehmeranteil vom Honorar abziehen und den Arbeitgeberanteil selbst tragen, sollte sich von selbst verstehen. Wer sein Honorar weiterhin „frei“ bekommt und keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung bei Krankheit hat, kann mit einem erhöhten Beitrag Anspruch auf ein vorgezogenes Krankengeld erwerben. 9. Eine Rentenversicherungspflicht auf eigene Kosten, wie das Gesetz sie für „arbeitnehmerähnliche Selbständige“ vorsieht, kommt im Musikbereich nicht in Frage. Hier geht im Zweifelsfall das Künstlersozialversicherungsgesetz als Spezialgesetz vor. 50 Prozent Beitragszuschuß gibt’s also in jedem Fall – entweder vom Arbeitgeber oder von der KSK. 10. Wer nach diesem Gesetz Arbeitnehmer im Sinne des Sozialgesetzbuches ist, hat gute Chancen, vom Arbeitsgericht auch als Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts anerkannt zu werden – also festangestellt mit Kündigungsschutz und Tarifgehalt. Eine solche Feststellungsklage ist auch rückwirkend möglich, etwa wenn der Auftraggeber einem Scheinselbständigen die Aufträge entzieht, um das neue Gesetz zu umgehen.

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