Die Entwicklung des Internets wird zahlreiche Veränderungen unseres Lebens mit sich bringen. Es wird viele altgewohnte und liebgewonnene Verhaltensformen auch in Kunst und Kultur neu strukturieren. Mit sogenannten Social-Media-Produkten wie Twitter, Facebook oder YouTube sind neue Kanäle der Kommunikation aufgetan. Pressearbeit, Selbstvermarktung und Öffentlichkeit suchen sich in den neuen Medien ihre eigenen Wege. Sie mäandern quer durchs Netz. Die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten entwickeln sich neu.
Aber das Netz ist verletzlich. Der Traum vom Internet als demokratischer Bewegung ist nicht gesichert. Denn das Netz ist eine technische, nicht eine inhaltliche Struktur. Es bietet Raum für Jedermann, sofern er über die technischen und finanziellen Mittel verfügt. Dann wird es zur totalen Speaker’s Corner. Das gefällt nicht jedem. Regierungen sehen darin gerne eine ungezügelte Anarchie am Werkeln, die man begrenzen und zügeln muss: durch Zensur, durch Überwachung und durch Macht.
Widerstand gegen eine derartige Bevormundung bleibt nicht aus. Gruppierungen im Netz wie Hackergruppen, analog zu Greenpeace oder Robin Wood, fühlen sich verpflichtet, dagegen zu operieren. Dabei trifft es auch schon mal Organisationen wie den Verein, der sich der Rechtewahrnehmung von Komponisten, Textdichtern und Verlagen, kurz GEMA, verschrieben hat. Diese war Ende August Ziel einer Attacke der Hackergruppe mit dem Namen AnonyPwnies (18 bis 25 Jahre alte IT-Spezialisten). Ergebnis: Die Website der GEMA war im Internet nicht mehr erreichbar, Daten in großer Menge wurden „entwendet“ (noch ist nicht klar, welchen Charakters sie sind).
Über ihre Motivation berichteten die Hacker in einem Interview auf der Website von gulli.com: „Wir sehen den aktiven Widerstand gegen solche Missstände als unsere Pflicht an, wie sonst soll man als ‚kleiner Bürger‘, zu dem man in unserer Gesellschaft erzogen wird, Dinge ändern. Wenn man in die Geschichte blickt, war die Welt vor jedem Frieden zerstört! Und nein, wir sehen unsere Vorgehensweise nicht als destruktiver Akt der Zerstörung, wir sehen sie als zweckmäßiges und wirkungsvolles Mittel, etwas zu ändern.“
So treffen sich Allmacht und Ohnmacht in einem Punkt. Man nimmt die Sanktion selbst in die Hand, nachdem man sich selbst ein Urteil gebildet hat – ob dies triftig ist oder nicht, darüber entscheidet nicht der öffentliche Diskurs, sondern die Laune: „Wir hören gerne Musik, schauen gerne Videos bei YouTube. Nachdem sich die Anzahl der Meldungen (…) häufte und die Anzahl der abspielbaren Videos weniger wurde, war klar, dass etwas getan werden musste. Die Forderungen der Gema sind überzogen und ihr Geschäftsmodell veraltet.“ Das ist nichts anderes als eine Logik privater Willkür!
Hintergrund des Angriffs auf die Website der GEMA ist, dass YouTube und GEMA sich seit vielen Monaten nicht über Gebühren für die Nutzung von Material einigen können, das über die GEMA lizenziert wird. YouTube blendet fallweise und nicht konsequent eine Meldung ein: „Leider ist dieses Video in Deutschland nicht verfügbar, da es Musik enthalten könnte, für die die GEMA die erforderlichen Musikrechte nicht eingeräumt hat.“ Das ist zwar faktisch falsch, aber den meisten Nutzern von YouTube muss diese Meldung als korrekt erscheinen. Und so wendet sich der Zorn gegen die GEMA. Eine geschickte PR von YouTube und man fragt sich, warum die GEMA das nicht unterbinden lässt.
Ob die Hacker bedacht haben, dass in der GEMA selbst sich schon etwas bewegt hat? Und ob sie bedacht haben, dass ihr Verhalten für den Verhandlungsweg kontraproduktiv sein könnte? Was die Frage GEMA/YouTube angeht, gibt es durchaus Zeichen aus der Mitgliederschaft der GEMA, die auf eine andere Politik hindeuten. Als Aufsichtsratsmitglied der GEMA sieht der Komponist Enjott Schneider das Verhalten von YouTube als urheberfeindlich. Als „Komponist sage ich aber ‚Wahnsinn‘, wie man mit dieser Plattform Leute quer über den Erdball erreichen kann und grüble, ob man diesen Nutzen über die paar Pfennige stellen soll, die eine Urhebernutzung eventuell einbrächte. Der Werbeeffekt ist nämlich urheberfreundlich.“ Sein Wunsch und Ideal: „dass unsere digitalisierte Gesellschaft weltweit schnell zu einem automatisierten Verfahren findet, wo jeder mit einem Klick etwas ohne Murren bezahlt, ohne merkbaren Bürokratieaufwand zu haben und dieses Geld dann werkbezogen beim (auch kleinen) Autor ankommt.“
Aber zurück zur Frage der Integrität des Netzes selbst. Die wollen die Hacker retten. Es ist also nachvollziehbar, dass man einen freien Diskurs der Meinungen im Netz als Verteidigungslinie gegen staatliche oder privatwirtschaftliche Übergriffe halten will. „Die Politik zeigt ganz klar auf mehr Kontrolle und weniger Meinungsfreiheit. Das Engagement von Programmierern und Hackern hingegen zu mehr Anonymität und Freiheit,“ sagt LiQuiD von den AnonyPwnies. Ehrenwert. Doch kann eine anonyme Öffentlichkeit ein gewünschtes Ziel sein? Anonymität ist keine Qualität, sondern ein wertfreier Schutzmechanismus – für beide Seiten der Medaille, den Informanten und den Denunzianten.
Eine anonyme Gesellschaft fördert dagegen Misstrauen: Ist derjenige, der mit mir arbeitet, ein Freund oder ein Spitzel? Freiheit kann aber nur dort gedeihen, wo die Qualität der Informationen sowie die Unversehrtheit der Person gesichert ist. Alexander Kluge schreibt: „Der Mensch neigt dazu, Vertrauen zu produzieren. Das ist eine Mitgift, eine Fähigkeit. Lieber irren wir uns, als nicht zu vertrauen. (…) Wo ein Vertrauen sich ausdehnt, können Menschen zaubern.“ Genau hier liegt das zentrale Defizit von Social Media und Internet – man kann ihnen nicht trauen.