Vor 100 Jahren: Die neuen Stuttgarter Hoftheater +++ Vor 50 Jahren: Bildungsgut oder Schulfach, fragt sich Gottfried Schweizer
Vor 100 Jahren
Die neuen Stuttgarter Hoftheater: Der große Wurf ist gelungen. Die schwäbische Residenz hat in den Theaterneubauten etwas Monumentales erhalten, das für die nächsten und auch wohl für die ferneren Zeiten anderen Theaterunternehmungen in vielen Stücken zum Vorbild gereichen wird. In den Stuttgarter Bauten kommen Natur und Kunst sich in wundervoller Weise zu Hilfe. Die großartigen Gebäude stehen in einem herrlichen Park, dem ehemaligen Botanischen Garten. Baumeister Prof. Max Littmann hat mit entschiedenem Glück seine schwierige Doppelaufgabe, die ästhetisch-örtliche und die technisch praktische, gelöst. Es wurde hier in Stuttgart nach dem gleichen Prinzip verfahren, wie in München beim Hof- und Nationaltheater und Residenztheater: Teilung des Schauplatzes für das Musikdrama, die große Oper, das monumentale Drama und anderseits für die komische Oper, für das Seelendrama, für das moderne Schauspiel. – Schulfeste in der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze Dresden-Hellerau, Dalcrozes hohes Ziel: die Ordnung und Leben schaffende Macht der Musik nach Stärke und Dauer auf unsere Bewegungsgewohnheiten voll einwirken zu lassen durch die Fähigkeit, Ton und Rhythmus in allen Abstufungen klar zu erfassen, restlos aufzunehmen und getreu wiederzugeben. „Der Rhythmus entfesselt alle unsere Kräfte, macht ihnen freie Bahn und formt dadurch unser Wesen zur höchsten Leistung.“ Hinzu kommt das Bedürfnis „die aus der Musik geborene Ausdrucksfähigkeit des Körpers und seiner Bewegungen in dem Wechselspiel von Licht und Schatten zu erproben...“
Neue Musik-Zeitung, 33. Jahrgang 1912, Heft 23/24
Vor 50 Jahren
Bildungsgut oder Schulfach, fragt sich Gottfried Schweizer: Das Gros unserer Jungen und Mädel durchläuft die Volksschule. Wie viele von ihnen kommen nach Lage der Verhältnisse in den Genuss einer ausreichenden Förderung ihrer musikalischen Begabung? In einer Denkschrift von 1959 lesen wir, dass der Musikunterricht an Volksschulen häufig sehr gering eingeschätzt wird und die zwei Wochenstunden vielerorts nicht erteilt werden. Raumnot, das Fehlen ausreichend vorgebildeter Lehrkräfte, der Mangel an Lehr- und Lernmitteln, in vielen Musikräumen nicht einmal eine Notentafel Eine Wandlung trat bei Kriegsende ein, wo aus dem technischen Nebenfach Gesang das „kulturkundliche Fach Musik“ geworden ist. Jetzt gesellt sich das Instrumentalspiel dem Singen gleichberechtigt zu; die Betrachtung musikalischer Kunstwerke soll Ohr und Herz erschließen
Auch die Höhere Schule kämpft um die bedrohte Existenz und Pflege des Musischen, damit sich der kommende Staatsbürger verständnisvoll am kulturellen Geschehen erfreuen kann und nicht ausschließlich intellektuell, verstandesmäßig gebildet wird. Der sogenannte Rahmenplan ist gegenwärtig das besorgniserregende Faktum, das die Kunst- und Musikerzieher alarmiert.
Die scheinbare Überfülle an Fächern und Unterrichtsstoff soll auf der Oberstufe beschränkt werden. Nichts dagegen einzuwenden, wenn damit die vertieftere Aneignung der Bildungsgüter erreicht wird! Aber nicht, wie es beabsichtigt ist, auf Kosten der Schönen Künste. Für die Gesamtheit der Schüler der Gymnasien soll nämlich der Musikunterricht mit Obersekunda abgeschlossen sein. – Immerhin, es gibt noch Lichtblicke in der vielerorts bestehenden Schulverdrossenheit, Aktionen, die in engem Rahmen ein blühendes weit ausstrahlendes schulmusikalisches Leben entfalten aus dem Zusammengehen einer begeisterungsfähigen, von idealistischem Schwung erfüllten Schülerschaft und einer kunstbejahenden Schulleitung.
XI. Jahrgang, Nr. 5, Sept./Okt. 1962, S. 1