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Vor 100 Jahren: Rich. Strauss: „Die Frau ohne Schatten“

Untertitel
Uraufführung an der Wiener Oper am 10. Oktober.
Publikationsdatum
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[…] Aehnliches gilt von der musikalischen Erfindung. Beethovens Skizzenbücher zeigen die Kämpfe und Krämpfe, die ein Motiv vom ersten Einfall bis zur endgültig gebilligten Fassung immer wieder verändern. Von Brahms ist bekannt, wieviel an Eingebungen schonungslos vernichtet wurde. Bei Strauss hat man das Gefühl, er habe nie eine Note, die ihm einfiel, verworfen, niemals den ersten Einfall im geringsten geändert. Sieht man die neue Oper daraufhin genauer an, so wird doppelt unfaßbar und bewundernswert, was Strauss aus belanglosen, ja bisweilen banal-kitschigen Motiven gestaltet hat.

Dabei stimmt es nicht einmal mit dem Wahrwort, daß es weniger auf das Motiv ankomme (siehe etwa „Eroica!“) als auf das, was daraus wird. Denn aus dem einzelnen Motiv wird bei Strauss auch nicht mehr, aber alle zusammen sind die lebenden Zellen, die einen hochwertigen Organismus aufbauen. Man spricht viel von dem neuen Stil, der eine Synthese der nervös-impressionistischen „Elektra“ mit der melodieseligen „Ariadne“ bedeuten soll. Die stilistischen Elemente der „Frau“ sind jedenfalls nicht neu. […]

Daß es eine Fülle geistreicher Kleinarbeit gibt, nehmen wir bei Strauss für selbstverständlich. Thematische Behandlung, polyphones Meisterdetail, bei architektonisch wundervoll klarer Zusammenfassung großer symphonischer Gruppen, assoziative Verknüpfung der Motive, die beinahe textliche Unklarheit hellseherisch zu deuten, deutlich zu machen vermöchte, wofern es nur überhaupt möglich wäre, Klänge, die zauberhafter wirken, als der ganze faule Märchenzauber des Dichters, unheimliche onomatopoetische Kunststücke wie der Falkenschrei, kurz – alles was Können heißt, zwingt zu widerspruchslosem Respekt, zum selben Respekt, den wir Strauss immer in vollem Maße gezollt haben. Aber – aber, dies alles reicht nicht für tiefere, anhaltendere Wirkung aus, für mehr als fachliches Interesse an der Lösung technischer Probleme. Denn weitere Probleme kennt dieses Werk nicht, kein Ton klingt nach, wenn sein letzter verhallt ist. Und was man bei Strauss nie erlebt hat, das Interesse erlahmt auf größere Strecken im zweiten und besonders im letzten Teil des dritten Aktes. Zum Respekt läßt man sich zwingen, zur Liebe nicht […]

Dr. R. St. Hoffmann (Wien), Neue Musik-Zeitung, 41. Jg., 30. Oktober 1919

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