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nmz vor 50 Jahren.
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Vor 50 Jahren

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Prognosen über die Kunst der siebziger Jahre
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Gespräch unseres Mitarbeiters Hanspeter Krellmann mit Mauricio Kagel über die Musik der kommenden 10 Jahre, optische Musik und Kompositionsunterricht.

Mauricio Kagel: […] Nicht umsonst hat man Prognosen über die Kunst ab 1970 kaum gestellt. Denn man ist gebranntes Kind, was die Evolution der Kunst, der Musik betrifft. Die Phasen der Ismen werden immer kürzer, Offenbarungen erweisen sich immer schneller als keine Offenbarungen. Ich glaube, daß wir in einer Mischung von gewaltsamer und gewaltloser Evolution, die natürlich auch ökonomisch bedingt ist, einer Umfunktionierung unseres Musiklebens entgegensehen. Der Begriff dessen, was eine Wertskala ist und welchen relativen Wert dauerhafte Werte haben, hat sich vollkommen verändert. Man hat zum Beispiel in den fünfziger Jahren über einzelne Musikstücke häufig als von Eintagsfliegen gesprochen, die sich später als ausgesprochen widerstandsfähig erwiesen haben. […]

Zunächst muß man zu verstehen versuchen, warum ein Student komponieren will. Ich bin der naiven Ansicht, daß jemand komponiert, weil er in dieser Form die für ihn adäquateste Ausdrucksform gefunden hat. Ich nenne den Standpunkt naiv, weil dies nicht immer zutrifft. Nimmt man diese Ansicht jedoch als wahr an, dann ändern sich die Beziehungen zwischen Musiktheorie und Kompositionspraxis, zwischen Vorstellung und Realisation, zwischen Notwendigkeit und Gewohnheit, weil sie stets neuen Formen unterworfen werden. Deshalb versuche ich bei Studenten nie, ihnen ein System aufzuzwingen, sondern lediglich die Musikalität ihrer Begabung entsprechend zu fördern und das Persönliche ihrer Idee entwickeln zu helfen. Musikalische Komposition beruht auf einer intimen Art von Forschung. Die wichtigsten Komponisten der Vergangenheit haben faule Kompromisse abgelehnt. […]

[…] nmz: Wie ergiebig ist das optische Material?

Kagel: So ergiebig wie die Fantasie der Komponierenden. Bilder, Worte, Töne werden mit einer begrenzten Anzahl von Zeichen, Symbolen und Schwingungen artikuliert. Komponisten sind im Vorteil, weil sie den gleichzeitigen Umgang mit Zeit und Raum gelernt haben. […] Der Widerspruch zwischen Vorstellungs- und Erlebniszeit ist heute besonders kraß, viel krasser als in der romantischen Zeit, wo er zum erstenmal auftaucht. Komponisten lernen, mit diesem Widerspruch – auch unbewußt – zu hantieren. Wenn sie dann mit einer visuellen Welt konfrontiert werden, die mit einer tönenden Welt in Beziehung gebracht werden muß, dann erfassen sie zeitliche Probleme bei der Artikulation visueller Ereignisse intuitiv richtig. Sie wissen aus akustischer Erfahrung über die Zusammenhänge zwischen Aktions- und Reaktionszeit. Das macht die Arbeit mit optischen Ereignissen für Komponisten so faszinierend.

Neue Musikzeitung, XIX. Jg., 1970, Nr. 1 (Februar/März)

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