[…] C.H.B.: Sie haben Ende der fünfziger Jahre ein vielzitiertes Stichwort aufgebracht: „Alea“, Dieses Stichwort war musikalisch exakt determiniert: als Bezeichnung des „dirigierten Zufalls“, einer kompositorisch gelenkten, das heißt der musikalischen Textur eingewebten, bewußt in sie einbezogenen Freiheit der Interpretation. Für das, was daraus geworden ist – eine Lawine von Willkür und ein Klischee –, können Sie nichts. Wie sehen Sie heute das Problem von Freiheit und Determination?
P.B.: Vielleicht war man zu streng in der damaligen Zeit, um Disziplin zu erlangen; aber später, um sich zu befreien, hat man eine Art von Spielerei betrieben. Einige Komponisten fühlten sich entfremdet vom Publikum. Und als sie auch keine Interpreten mehr fanden, wollten sie ihre Frustrierung kompensieren und wurden selber zu Pseudo-Interpreten. Man kann das nicht für mehr nehmen, als es ist: eine ziemliche Parodie. Da ist eine kleine Gesellschaft, die sich konstituiert hat gegen die große Gesellschaft. Ich finde, das ist nicht gerade die richtige Methode. Wenn man Schwierigkeiten mit einer konservativen Gesellschaft hat, so besteht die Lösung nicht darin, zur eigenen Befriedigung eine Art Anti-Gesellschaft aufzubauen. Viel besser ist es, zu kämpfen und in die konservative Gesellschaft hineinzugehen, um deren Gesichtspunkte zu ändern.
C.H.B.: Wir sind uns darin einig, daß das Problem von Freiheit oder Nicht-Freiheit primär ein gesellschaftliches ist. Es gibt nun Künstler, große Virtuosen der Neuen Musik, die heute sagen, Kunst könne oder dürfe nicht mehr sein. Das Wort „Künstler“ bedeute eine Sonderstellung, einen Eliterang. Man könne – ich vereinfache das – nur Töne machen, und Töne kann jeder machen, auch jeder Laie, also muss man zu den Massen gehen.
P.B.: Natürlich kann ein Laie etwas tun, aber das ist dann nicht sehr interessant. Diese Konzeption ist einfach Demagogie. Sie zeigt, wie faul manche Leute sind, und daß sie keinen Mut haben, etwas Neues anzufangen. Es ist viel leichter, sich zufriedenzugeben mit einer kleinen Improvisation.
C.H.B.: Sie würden also an dem Begriff des „Kunstwerks“ festhalten und sagen, daß man auch damit die Gesellschaft verändern kann, auf lange Sicht und mit viel Geduld?
P.B.: „Kunst“ ist mir vollkommen gleichgültig. Das ist ein Wort des 19. Jahrhunderts. Das Wort „Wahrheit“ oder „innere Wahrheit“ ist mir viel wichtiger. Aber mit dieser Nicht-Kunst, die manche Leute wollen, ist es genauso wie mit der Anti-Gesellschaft. Das ist nur das Negativ-Klischee der Kunst und deswegen für mich wertlos.Die Künstler haben im allgemeinen viele Utopien über die Renovierung der Gesellschaft. Ich glaube, wenn man die Gesellschaft erneuern will, muß man ein Revolutionär sein und mit Bomben oder ich weiß nicht was umgehen. Aber wenn man nur mit einem Bildwerk, mit einem Musikstück renovieren will: das ist einfach lächerlich. Das ist wie bei einem Kind. Das schreit und dann glaubt, jeder werde erschrecken. Es erschrickt aber niemand, und der, welcher schreit, glaubt das nur; für ihn ist das eine Erleichterung seines Lebens, das ist alles.
Claus-Henning Bachmann, Neue Musikzeitung XIX. Jg. 1970, Nr. 6 (Dezember/Januar)