[…] Ausgangspunkt der meisten kritischen Auseinandersetzungen um Strawinsky war der Gegensatz zur Schönbergschule gewesen, Strawinsky hat ihn selber, wenn auch wohl nur scheinhaft, durch seine Hinwendung zur Webernschen Reihentechnik ein wenig überbrückt. Mit dem Zerfall der von der Zwölftontechnik ausgehenden seriellen Musik verlor deren polare Position an konstitutiver Bedeutung. Hinzu kam, daß die strikte Emotionslosigkeit des Serialismus mit seiner Konzentration auf die reine Materialdisposition der Haupttendenz gerade von Strawinskys Komponieren entgegenkam.
Aber auch die anschließende Welle der Klangfarbenkompositionen berührt sich mit einem entscheidenden Moment Strawinskys: Instrumentation als essentieller kompositorischer Faktor. Dies freilich ist ein Punkt, an dem man sich nicht immer des Eindrucks erwehren kann, daß Strawinsky in einem wesentlichen musikalischen Impuls doch seinem Lehrer Rimsky-Korsakow verhaftet blieb.
Ernst Bloch („Zeitecho Strawinsky“, 1934) und Adorno (in der „Philosophie der neuen Musik“ von 1948 und dem späteren, noch differenzierteren Essay „Strawinsky, ein dialektisches Bild“) insistierten darauf, daß die expressionistisch motivierte Fixierung auf die Bereiche von Schmerz und Tod bei Schönberg, Berg und Webern Impuls, oder zumindest Reflex des Lebendigen sei, während Strawinskys Musik in ihrer glatten Positivität (Bloch spricht vom „atmosphärelosen Stahlton“) Musik des Todes sei.
Unter diesem Aspekt stand streckenweise auch die im Hessischen Rundfunk stattfindende Diskussion „Strawinsky – tot oder pop?“, an der unter Leitung von Ulrich Dibelius die Komponisten Niels Frédéric Hoffmann, Ladislav Kupkovic, Helmut Lachenmann und Jacques Wildberger teilnahmen. Keiner von ihnen mochte sich mit Strawinsky identifizieren oder auch nur eine tiefergreifende Beeinflussung seines Komponierens durch ihn konzedieren. Einig waren sie sich im Rühmen seines kompositorischen Metiers, das Wildberger hervorhob, um es als steril zu kritisieren. Eine leider nicht weiter verfolgte dialektische Erwägung brachte Lachenmann, der Strawinsky mit einem Raritätensammler verglich, dessen auf tote Materialien zielendes Interesse zwar persönlich objektiv, zugleich aber Marotte sei. Hoffmann wandte sich gegen Strawinskys wohlfeile Zurichtung aller möglichen Materialien je nach Bedarf. Darüber, daß Strawinsky ,,tot“ sei, waren sich alle einig. Doch hob Hoffmann hervor, daß nach der Phase des materialimmanenten Komponierens das Strawinskysche Verfahren, heterogene und vorgeprägte Materialien zweckmäßig zu montieren, für ihn als politisch orientierten und sich auf Hanns Eisler berufenden Komponisten aktuelle Aspekte böte; Kupkovic ging so weit, zu sagen, daß die Komponisten stets mit vorgeformten Mustern zu tun hätten. Unter diesem Aspekt der Verwertbarkeit historischer Musik läßt Strawinskys Komponieren Bezüge zur Pop-Art erkennen. Freilich wirken in dieser Hinsicht Komponisten wie Mahler (auf den Lachenmann verwies) und vor allem Ives mittlerweile fast aktueller und verbindlicher. […]
Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XXII. Jg., Nr. 1, Februar/März 1973