Ende vergangenen Jahres ging eine Notiz durch die Zeitungen, die manchen Musikfreund in bestürztes Staunen versetzt haben dürfte. Im Mailänder Konservatorium hatte der seit neuestem auch als „Klavier-Wunder“ (Joachim Kaiser) apostrophierte Pianist Maurizio Pollini (30) es gewagt, ein Recital mit einer Protest-Resolution gegen die letzte schwere Vietnam-Bombardierung der Amerikaner zu eröffnen […]
Läßt sich „il caso Pollini“ individualpsychologisch dingfest machen? Wer Pollini kennenlernt, ist dank der eingeschliffenen Fama vom politisch engagierten Künstler vielleicht ein bißchen überrascht. Da spricht weder der hitzköpfige Draufgänger, noch der idealistische Träumer oder Utopist gesellschaftlicher Radikallösungen, sondern einer, der abzuwägen und mit Verstand zu argumentieren weiß. […] Vor allem aber: Pollini spürt die unüberbrückbare Kluft von scheinverhafteter Kunst und heutiger sozialer und politischer Realität, die Hanns Eisler, geht sie als Widerspruch in musikalische Praxis ein, schlicht „Dummheit“ genannt hat. Er macht sich keine Illusionen über die allzu billige Konsumierbarkeit begriffslosen Tönens, und sei es eines mit revolutionärem Gehalt; er durchschaut den aufs reibungslose Funktionieren angewiesenen Musikbetrieb. Eben diese Unversöhnbarkeit von ästhetischem Gebilde und tatsächlichem Weltlauf ist es, die ihn, der nicht nur Noten, sondern auch die Zeitung lesen kann, zur Kritik des im Konzertsaal approbierten Rituals treibt. Mit den Worten Pollinis: „Ich will keineswegs die Konzerte politisieren, als Regel sozusagen. Es gibt jedoch außerordentlich schwerwiegende Augenblicke, in denen auch der Künstler intervenieren muss.“ […]
Wolfgang Schreiber, Neue Musikzeitung, XXII. Jg., Nr. 2, April/Mai 1973