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Zur Frage der Auszüge
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Zur Frage der Auszüge

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Rückblende: Vor 100 Jahren (1921/09)
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Wenn man ein wenig über Klavierauszüge nachdenkt, so fällt vor allem auf, wie verschieden ihre Wertschätzung im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Verbreitung ist. Es wird kein musikalisches Heim geben, in dessen Notenbestand ein paar Auszüge aus Opern oder Symphonien fehlten. Haydn, Mozart, Beethoven hätten nicht so rasch und sicher im allgemeinen Bewußtsein festwurzeln können, wenn es kein Klavier gegeben hätte, das vorbereitend und die Erinnerung vertiefend alle Eindrücke der Aufführungen ergänzen half. Trotz diesem Tatbestande ist das Spiel der Auszüge als solches gleichsam noch nicht hoffähig vor den maßgebenden Kreisen. Es wird im Unterrichte vernachlässigt, wenn nicht verabsäumt; es ist von öffentlicher Darbietung ausgeschlossen. […]

 

Im Orchester entwickelt jedes Instrument seine eigene Obertonreihe, und der beschränkte Tonumfang sichert die eigenartige Schönheit des besondern Klangs eines Tonwerkzeugs. Umgekehrt vereinigt zwar das Klavier höchsten und tiefsten Umfang, hat aber einen beschränkten Klangraum, in dem die Töne einander nicht bloß stützen, sondern ebenso auch stoßen, trüben, verwischen. Man kann den Eindruck eines Orchesters mit einem perspektivischen Durchblick vergleichen; Töne und Tongruppen lassen sich mühelos ordnen; sie treten nach Wunsch (und Können) des Urhebers in den Vorder-, Mittel- oder Hintergrund. Dieser Durchblick wechselt natürlich mit jedem Uebergang und Zusammenhang. Die Töne mischen und entmischen sich, verbinden und trennen sich, rinnen in- und auseinander. Das Klavier beruht auf ganz andern Bedingungen von Hörsamkeit (vergl. Ludwig Riemanns „Wesen des Klavierklangs“). Es wird ihm äußerst schwer, jenen malerischen Durchblick nachzuahmen. […] Man muß also, um einen Punkt herauszugreifen, in der Wahl der Oktavlage für jedes Motiv und jede Harmoniefolge soviel Freiheit haben, als sich mit den Gesetzen des Kontrapunktes verträgt. […] Um es zusammenzufassen: der Aufbau der Akkorde und Stimmen muß so nachgeahmt werden, wie es den Klanggesetzen des Klaviers, nicht des Orchesters, entspricht.

Dr. R. Grunsky, Neue Musik-Zeitung, 42. Jg., 22. September 1921

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