Wie hat der deutsche Kulturphilosoph Peter Sloterdijk kürzlich formuliert? „Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst der Religion,“ heißt es in seiner Studie „Du musst dein Leben ändern“ von 2009. „An den Wassern zu Babel“, die jüngste spartenübergreifende Uraufführung des Theaters Aachen, hat sich das irritierende Phänomen Religion vorgenommen - in einer Folge von „Szenen aus dem Alten Testament für Sänger, Schauspieler, Chor und Orchester.“
Sloterdijks Formulierung von Religion als Gespenst ist im Programmheft zitiert. Und tatsächlich zeigt die Produktion das Alte Testament primär von seiner gespenstischen Seite. Der polnische Schriftsteller Tomasz Man versammelt in seinem Szenario irritierende, verstörende und brutale Erzählungen vor allem aus der biblischen Urgeschichte und versucht die darin agierenden Personen aus heutiger Sicht zum Sprechen zu bringen. Das Ergebnis scheint die bekannte These des Ägyptologen Jan Assmann zu stützen, der den drei monotheistischen Religionen ein besonderes Gewaltpotential zuschreibt. Deren Gott duldet bekanntlich keine anderen Götter neben sich.
Recht genau auch haben der Autor und sein Regisseur Ludger Engels die identitätsstiftende Rolle des alttestamentarischen Jahwe-Glaubens im Blick. Die zivilisierende Wirkung von Religion wird hingegen ebenso ausgeblendet wie die mythische Struktur der Vätergeschichten, die sich auf die Gegenwart kaum anwenden lässt. So wie aus der Aktualisierung der griechischen Mythologie in den Offenbach’schen Operetten die Travestie werden musste, so tendiert auch dieser Abend bei der Anfangsszene noch ins Komische: Da macht sich ein hornbebrillter junger Wissenschaftler mit Witz daran, das Paradies inklusive Adam und Eva in Augenschein zu nehmen. Doch zunehmend gewinnt ein plakativer Ernst die Oberhand, der manchmal berührt, manchmal peinlich wirkt. Dass die Regie auch in drastischen Szenen auf die bekannten Überwältigungseffekte aus der Mottenkiste des Regietheaters verzichtet, fördert allerdings die Bereitschaft des Publikums zum Nachdenken. Viele Zuschauer der zweiten Aufführung nahmen das Angebot zum Nachgespräch im Foyer wahr.
Musikalisch besteht der Abend aus drei heterogenen Schichten. Das dominierende Element ist Kirchenmusik. Den ersten Teil des Abends durchzieht die geistliche Kantate „Super Flumina Babilonis“ des französischen Barockkomponisten Michael-Richard Delalande. Hier ist der titelgebende Psalm 137 vertont, in dem die Israeliten einst das babylonische Exil beklagten. Im zweiten Teil erklingen Ausschnitte aus Felix Mendelssohns Vertonungen der Psalmen 42, 98 und 115. Der Sinfonische Chor Aachen und die Sängerinnen und Sänger des Musiktheaters stehen und agieren dazu in etwas vorhersehbarer Weise als Volksmasse in heutiger Alltagskleidung. Während das Sinfonieorchester Aachen unter Volker Hiemeyer in beiden Fällen stilgerecht und lebendig spielt, wirkt der Chor bei Delande schwerfällig und angestrengt in der Tongebung. Das legt sich bei den Mendelssohn-Psalmen, die auch szenisch überzeugender eingebunden sind.
In archaischere und spannendere Dimensionen stößt die Inszenierung bei zwei modernen Instrumentalstücken vor. Auf das erste von Giacinto Scelsis „Vier Stücken über eine Note” folgt Edgar Varèses “Dance for Burgess”. Szenisch und inhaltlich etwas unvermittelt wirken zwei der “Lieder des verliebten Muezzins” von Karol Szymanowski. „Doundou Tchil“ aus Olivier Messiaens Liedzyklus „Harawi“, darstellerisch und sängerisch virtuos vorgetragen von Astrid Pyttlik, bereitet als eine Art Schlangen-Szene die abschließende Hiob-Erzählung vor. Während das Miteinander von Schauspiel- und Musiktheaterensemble in dieser Produktion völlig organisch und unverkrampft abläuft, kommt insgesamt aber das religiöse Potenzial der Musik neben den entfalteten Bibeltexten wenig zur Geltung. Selten wachsen die Stücke über den Status einer „musikalischen Einlage“ hinaus.