Für einiges Aufsehen sorgte der Grazer Komponist Bernhard Lang 2006 anläßlich eines der einschlägigen österreichischen Musik-Jubeljahre, zu dem er für das Theater an der Wien das Musiktheaterprojekt „I hate Mozart“ beisteuerte. In Fachkreisen war man bereits drei Jahre zuvor durch ein „Theater der Widerholungen“ auf ihn aufmerksam geworden, das – wie der Name bereits andeutet – das Stil- und Streckmittel der Wiederholung auslotete. Die Wiederholung von Satzteilen bzw. musikalischen Figuren, feinöhrig modifiziert bei der zweiten und dritten Wiederkehr, ist nun auch bei „Montezuma – Fallender Adler“ unverwechselbares Kennzeichen des minutiös ausgefeilten Tonsatzes.
Der bewegt sich in verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen auf die zentralen Szenen mit größer besetztem Orchester zu. Und wieder weg. Ohne dass die Satztechnik allerdings in Impertinenz-Muster der minimal music nach der Machart von Philip Glass, Steve Reich oder Michael Nyman verfällt. Der Umgang mit den Wiederholungen gehört von Alters her zu den besonders sensibel zu handhabenden Momenten der Komposition wie der Interpretation.
Bernhard Langs Montezuma-Projekt war für die Kulturhauptstadtaktivitäten 2009 in Linz bestimmt. Nachdem das Musiktheater für 6 Stimmen, Chor, Jazz-Combo, Turntables, verstärktes Instrumental-Ensemble und Zuspielung (also einen Meister am Mischpult!) jedoch in Niederösterreich aus Kostengründen nicht zustande kam, nahm das Nationaltheater Mannheim die Chance wahr und sorgte für die Uraufführung – weithin mit hauseigenen Kräften. Die sahen sich vor erhebliche Herausforderung gestellt. Und sie haben unter der Leitung von Walter Nußbaum die Klippen des Neuen bravourös gemeistert.
Der Komponist stützte sich auf einen von Peter Leisch bearbeiteten Text des österreichischen Lyrikers Christian Loidl (1957–2001), für den – wie auch schon für Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexico“ (Hamburg 1992) – die Schriften des französischen Theatertheoretikers Antonin Artaud richtungsweisend waren. Am Horizont taucht eine der größten politisch-militärischen Katastrophen der frühen Neuzeit auf: die Vernichtung des Aztekenreichs durch sechs Hundertschaften habgieriger und mordlüsterner Spanier. Im Mittelpunkt steht die Begegnung des Herrschers und Appeasement-Politikers Moctezuma II (Motēuczōma, Xōcoyōtzin, Montezuma; ~1465–1520) mit dem zur Erkundung der mexikanischen Küste ausgesandten Söldnerführers Cortéz, der aus der Sicht der ratlosen Azteken zunächst für einen aus dem Osten wiederkehrenden Gott gehalten wird.
Der unter Don Diego Velázquez, dem Statthalter Kaiser Karls V. in „Neuspanien“, als Logistiker und Goldbeschaffer bereits bewährte Hernán Cortéz verbündete sich eigenmächtig mit von den Azteken unterworfenen Indio-Stämmen und legte sich mit der indianischen Dolmetscherin Malintzin eine Geliebte zu, die ihn mit der Infrastruktur des Landes und der Mentalität seiner Menschen vertraut machte. Für die Mannheimer Uraufführung versetzte sich die Sopranistin Cornelia Ptassek in diese tief gespaltene Figur, deren Informationen kriegsentscheidend waren, und verschafft der Neu-gierigen stimmhaften Ausdruck: „Erzähl’ mir vom Gold, Hernán!“
Es geht mit dieser Produktion nicht um Historie, schon gar nicht historisch-kritisch akzentuierte, sondern eben um Kunst (und Kunst über Kunst – und Kunst über Kunst über Kunst). Bernhard Lang hielt es in gut österreichischer Tradition mit dem einstigen Hause Habsburg, das sich mit Feuer und Bett ferne Länder und Menschen einverleibte – mit Hilfe seiner Konquistadoren und seiner Heiratspolitik. Lang verwandelt sich immer wieder Werke der Musikgeschichte an – am hörbarsten von Richard Wagner (kurze Ausschnitte aus der „Götterdämmerung“ und dem „Parsifal“), aus alten Madrigalbüchern und von Meistern der Bordun-Technik im 11. Jahrhundert sowie – beim Stichwort Lamm und Blut – Bach-Choral. Dies Sammelsurium des Alten wird freilich allemal ‚überschrieben’. Diese postmoderne Arbeitsweise degradiert die Arbeiten der Alten Meister – wie den weithin im Gewebe der Musik verschwindenden Text – zum „Material“ (die Originalurheber werden nicht konsultiert bei dieser Kunst des Erbens, weil sie nicht mehr befragt werden können).
Freilich finden sich auch lange Musikstrecken, auf denen dieses in besonderer Weise an die Ohren der Bildungshörer appellierende Mittel nicht zum Einsatz gelangt und die Lineatur neuer Musik den Horizont absteckt. Und nicht selten mit scharfen Krallen. Bernhard Lang schreibt eine polyglotte Musik, diskursiv oder ‚beredt’ – ausgesprochen theaterwirksam: Musik, die abschnittweise ihre spezifischen Strömungsgeschwindigkeiten und streckenweise hohe Intensität entwickelt. Immer wieder aber, Aufmerksamkeit heischend, ins Stocken der Repetitionen verfällt.
Nachdem zu Beginn eine Video-Projektion unbestimmtes Ufer mit sich kräuselnden Wellen andeutete und Schemen von Menschen, die sich nähern – ein schönes Bild, das am Ende wiederkehrt – zeigt der Regisseur und Ausstatter Peter Missotten in der Hauptsache und in Anspielung auf die in See und Sümpfen gelegene Aztekenhauptstadt Tenochtitlán eine Wasserfläche. Aus der ragt immer wieder ein dreieckiger Verhandlungs- und Opfertisch empor, auf dem und um den herum das (Seelen-) Kräftemessen der unterschiedlichen Protagonisten aus den beiden konträren Hemisphären stattfindet – zwischen dem Counter Daniel Gloger in der Titelpartie, die einen zunehmend der Wirklichkeit entrückten Poeten ohne allzu viel Sympathien charakterisiert, und den ebenfalls häufig falsettierenden Kontrahenten Cortéz (Ekkehard Abele als Bürokrat des Todes und der Vernichtung) bzw. Damiano (Tim Severloh als fieberkranker Mönch). Dieser Missionar wird von seinen Kameraden zurückgelassen, von Montezuma vom Sumpffieber kuriert und dann nach gutem alten Aztekenbrauch geopfert.
„Und weil wir doch nicht wissen wer sich an uns erinnert“, sinnieren die „Toten Stimmen“ am Anfang – und am Ende wissen sie: „unsere bestimmung kann nur das verschwinden sein“. Bernhard Langs „Stationentheater“ erhält durch die Fragen eines Schatten-Chors nach der menschlichen Existenz einen existenzphilosophisch getönten Rahmen und zielt auf die Furie des Verschwindens: das Verschwinden der narrativen Erzählung und des konstitutiven Textes, das Verschwinden einer Kultur und wohl auch das Verschwinden des Subjekts im Mahlwerk von Geschichte und deren Evokation aus dem Geist der Postmoderne.