Johann Christian Woyzeck ist nur 44 Jahre alt geworden. Der einstige Soldat und Perückenmacher wurde 1824 auf dem Leipziger Marktplatz enthauptet, nachdem er drei Jahre zuvor seine Geliebte, eine alleinerziehende Witwe, aus Eifersucht erstochen hatte. Georg Büchner las etwa zehn Jahre nach dieser spektakulären Hinrichtung, der letzten öffentlichen in der Stadt Leipzig, medizinische Gutachten über die Schuldfähigkeit Woyzecks und schrieb auf dieser Grundlage sein bekanntes Drama, das unvollendet geblieben ist.
Uraufgeführt wurde es erst 1913 in München, da war Büchner längst tot. Der Dichter (und Doktor der Medizin!) starb 1837 mit nur 23 Jahren in Zürich an Typhus. 1925 entstand aus dem Fragment die Oper „Wozzeck“ von Alban Berg. Weitere 75 Jahre später hat Robert Wilson den Büchner-Text mit Musik von Tom Waits zu Songtexten von Kathleen Brennan in Kopenhagen herausgebracht. Diese Fassung des historischen Vorgangs, der durchaus als Paraphrase zur bellizistischen Jetzt-Zeit gesehen werden kann, wurde nun, nach Aufführungen in Oberhausen und Berlin, am Hamburger Thalia-Theater von Jette Steckel in Szene gesetzt. Premiere war am vergangenen Wochenende, das Publikum hat sie gefeiert.
Bodenlos, aber mit Netz
Soviel zu den Zahlen. Sie liegen wie ein Geflecht über der Vorgeschichte des „Woyzeck“. Nun zu den Verstrickungen. Woyzeck ist Soldat, also ein ganz armes Schwein. Er wird von seinem Hauptmann drangsaliert, vom Militärdoktor entwürdigt, durch den Tambourmajor gehörnt. Beim Rasieren darf er nicht hetzen, „ein guter Mensch tut das nicht“. Um ein paar Groschen zu verdienen, muss er als menschliches Versuchskaninchen widerliche Experimente mit Erbsensuppe und Wortsalat über sich ergehen lassen. Dass währenddessen der fesch-feiste Offizier in seinem Bett verkehrt, ist Stadtgespräch und wird ihm lästernd vorgehalten. Zumeist wird Woyzeck (und selbst Wozzeck) als tumber Tor dargestellt, der sich in sein Schicksal fügt, zu dumm ist zum Opponieren, und als derangiertes Opfer zum Täter wird, indem er vor den wahren Tätern kuscht und das eigentliche Opfer Marie feige zum doppelten Opfer herabwürdigt.
Die Kopenhagener Uraufführung des Wilson-Waits-„Woyzeck“ hat das sozial-psychologische Geflecht noch theatralisch verfremdet; Jette Steckel gelingt eine höchst menschliche Lesart, in der auch Opfer-Täter Woyzeck mitdenken und -fühlen darf. Das rettet ihn nicht, macht die Geschichte aber plausibel und ergreifend.
Die Emotionen der Darsteller sind in der Abstraktion des Bühnenbildes von Florian Lösche verankert. Ein elf mal elf Meter großes Konstrukt aus Stahlrahmen und gleichmäßigem Seilgeflecht bildet das Netzwerk der Protagonisten. Sie verfangen sich in den Seilen, klettern an ihnen entlang, fallen durch die Maschen und bleiben doch aneinander gebunden. Das simpel symbolische Menetekel aus Verkettung und Fallstrick ist mal Bettstatt, mal Hängematte, wird Himmelsleiter und Todesmeer. Ein geradezu geniales Sinnbild für diese glaubwürdig düstere Interpretation.
Auch Nichtsingen ist Kunst
Da ist nicht nur die Akrobatik der Mitwirkenden gefragt. Die Rasanz mancher Bilder macht beim Betrachten geradezu besoffen. Die Protagonisten verrennen und verheddern sich, nicht in den Seilen, in ihren wachsenden Nöten. Man möchte dem Treiben Einhalt gebieten und wünscht sich wenigstens Woyzeck noch klüger. Sein Strickmuster im Kopf und auf der Bühne lässt das nicht zu.
Hier kommt nun zum gesprochenen Text der herrlich schief instrumentierte Gesang. Tom Waits, noch stets ein bekennender Sympathisant der sogenannten Underdogs, er hat dem Drama eine gute Handvoll so trefflich wie schroffer Songs beigesteuert, die 2002 auf dem vielsagenden Album „Blood Money“ erschienen sind. In Hamburg sind die Schräghits auf die handelnden Personen verteilt, die allesamt keine ausgewiesenen Sänger sind, aber in unterschiedlichem Maße verraten, dass auch Nichtsingen-Können von eigener Kunst ist. Nicht jedem gelingt dies auf gleich-gutem Niveau. Höchstes Lob und immer wieder auch Szenen-Applaus aber hat sich die kleine Band um Gerd Bessler erspielt, die aus exzellenten Multi-Instrumentalisten besteht und exakt das Schrundige der Bühnenmusik trifft. Ein echtes Wunder ist dies nicht, denn der diverse Saiten- und Tasteninstrumente spielende Musiker, Komponist und Arrangeur war bereits vor zehn Jahren mit dabei, als Wilson und Waits mit den längst legendären Produktionen „The Black Rider“ (nach Webers „Freischütz“) und „Alice“ (nach Lewis Carrol) in Hamburg Station machten.
Im Winter 2010 nun sind die beiden Amerikaner nicht an der Alster, das Ergebnis klingt trotzdem höchst überzeugend. Felix Knopp in der Titelpartie singt und spielt ähnlich wie Maja Schöne als Marie die Zerrissenheit gepeinigter Menschen, die Nähe suchen, auch Wärme, und beides zerstören. Die Waagschalen zwischen Absicht und gespielter Ahnungslosigkeit reizen sich aus bis zum Anschlag. Militärisch mies der zur Rasur eingeseifte Hauptmann, der sich Woyzecks Klinge zwar ausliefert, sich aber sonst nur durch den Popanz seiner Uniform definiert. Philipp Hochmair spielt diesen Fiesling entlarvend stark. Als eiskalt Intellektueller wird der Doktor von Tilo Werner gegeben, seine Schikanen flößen Angst ein, verstören – eine explosive Charakterstudie, die den eigenen Körper als Instrument nutzt und den jede Armee beherrschenden Wahnsinn dokumentiert.
Poetisches Sittenbild
Josef Ostendorf als Tambourmajor überzeugt weniger mit vokaler denn mit körperlicher Präsenz. Seine Figur ist auf Geltung angelegt und schockiert insbesondere durch den Kontrast zu Woyzecks so zerbrechlicher Frau. Die bräuchte einen wie Andres, den Freund, der Woyzeck immer wieder halten will – und ihn doch nicht retten kann. Jörg Pohl ist in dieser Rolle beinahe ein Bruder und spielt sich schier um den Verstand. Der ist Karl, dem Idioten, längst abhanden gekommen, was bekanntlich oft erst recht zur Weitsicht taugt. Julian Greis mimt einen furchtsam verstörten Burschen, der für Maries Kind wohl die letzte Chance bleiben wird. Die bodenständig gegebene Margreth, von Gabriela Maria Schmeide recht energisch verkörpert, kommt dafür eher nicht in Frage. Sie erzählt zu Anfang und Ende vom einsamen, traurigen Kind. Auch da hat die Regisseurin stimmig auf Emotion gesetzt, ohne auch nur einen Moment banal zu sein.
Dem Ensemble ist ein poetisches Sittenbild gelungen, bei dem letztlich alle als Außenseiter agieren und kein soziales Netz vorhanden ist, das sie aufhalten könnte. Zwei ergreifende Stunden, die viele Höhepunkte haben und auch dramaturgisch, sowieso musikalisch, in sich geschlossen sind, ganz zum Schluss aber noch einmal besonders zu Herz gehen. Die ermordete Marie sinkt durch das Flechtwerk metertief zu Boden, sanft, wie eine Wasserleiche, und Woyzeck folgt ihr auf den Grund.
Weitere Aufführungen: 8., 9., 19., 10.2.2010