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Titelseite der nmz 2015/07.
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Atemlos …

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Von Theo Geißler
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… durch die Nacht angelt sich höchst ertragreich seit fast zwei Jahren Helene Fischer gemeinsam mit ihrem anonymen Liebsten. Preisgekrönt dank allem, was in unserer Glitzerwelt an umsatzbegründeten „Auszeichnungen“ an Land zu ziehen ist. „Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht, atemlos einfach raus, Deine Augen ziehn mich aus…“. Steht zu erwarten, dass ihr übernächster Superhit „Pausenlos durch den Tag“ (wie die Deutsche Bank es mag) betitelt ist, falls noch Zeit zum Anziehen bleibt. Gesponsert vom Bundesverband der Deutschen Industrie und den Bildungsministerien der Länder. [Vorabdruck aus der nmz 7/8 2015]

Auf fast all unseren existenziellen Ebenen hat  die „Beschleunigung“ atemberaubende Geschwindigkeit erreicht. Kundinnen und Kunden, die im Dreihundert-PS-SUV in Factory-Outlets sausen, um sich günstigst einzudecken. Rasender Informationsfluss dank allgegenwärtiger Medien. Schulzeitverdichtung und Studium Bolognese aus Sehnsucht nach rascher Verwertbarkeit  des heranwachsenden Menschen-Materials für wirtschaftliche Prosperität.

Kleine, gern als sektiererische Grüppchen belächelte Zirkel plädieren für „Entschleunigung“, um Menschen Gelegenheit zu geben, Luft zu holen, nachzudenken, statt sich beim „Iron Man“ die Lunge aus dem Hals zu hecheln. Stehenzubleiben, zurückzuschauen, den eigenen Standort zu bestimmen.

Darunter Eltern- und Lehrerverbände, die meist erfolglos die Rückkehr zum G 9 einfordern. Darunter Menschen, die vom Fast- zum Slow-Food konvertieren. Darunter Künstler, auch Musiker, die hypermotorisch-mondäne Tastenlöwen gern in die Exoten-Arenen von „Fight-Clubs“ zurückschicken möchten. Wer erinnert sich noch daran, wieviel Spott einst die Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer mit ihrer These erntete, Mozart würde heutzutage auf werk-deformierende Weise in doppeltem Tempo interpretiert. Ihre Einspielungen, schwer erhältlich, haben heute einen seltsamen Reiz.

Solcher dürfte freilich unsere ehrgeizige aktuelle Elterngeneration kaum noch erreichen. Auf maximalen materiellen Erfolg ihrer Brut bedacht vernetzen bereits zehn Prozent ihre Dreijährigen, und mehr als fünfzig Prozent die Achtjährigen mit dem alligatorenreichen Sumpfgelände des Internet. Wen wundert es, dass da nach einer Studie der Uni Bielefeld an die zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen zugeben, unter erheblichem Stress zu stehen. Ritalin boomt. Die Stoff-Masse in Schule und Hochschule verbunden mit brutalem Zeitdruck führt dazu, dass „weiche Nebenfächer“ wie Kunst, Sport und Musik als Belastung empfunden werden.

Soeben hat die Bundesregierung zu einem Bürgerdialog mit dem Thema aufgerufen: „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“. Wir raten zur raschen Entwicklung einer modernen „Eisernen Lunge“, die vor allem die rationale linke Hirnhälfte vorzüglich mit Sauerstoff versorgt, damit unsere Wachstumsgesellschaft nicht außer Puste gerät. Ob die gewählten Volksvertreter aufgrund ihrer 18-Stunden-Arbeitstage dazu noch die Kraft haben, bleibt abzuwarten. Einen feinen Urlaub bei Beach-Volleyball, Schnorcheln und Sonnenbrand wünscht Ihr
Theo Geißler 

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