Wer kennt ein Euphonium? Die Kinder gucken neugierig. Und auch die Senioren, die zwischen ihnen sitzen, schauen erwartungsvoll drein. Ein solches Instrument hat noch niemand gesehen! Jetzt dürfen sie sogar einmal hineinblasen. Barbara Metzger, Professorin für Elementare Musikpädagogik an der Musikhochschule Würzburg, geht mit dem Instrument von Stuhl zu Stuhl. Vor fünf Jahren rief sie das Projekt „Intergeneratives Musizieren“ ins Leben.
Äußerst kritisch wird derzeit diskutiert, in welchem Maße Menschen mit Behinderung jahrzehntelang vom „normalen“ Leben ausgeschlossen waren. Eine immer besser ausgebaute „Sonderinfrastruktur“ sorgte dafür, dass sie in einer eigenen Welt lebten. Die UN-Behindertenkonvention gab den Kritikern Auftrieb. Seit sie in Kraft trat, wird verstärkt gefordert, Menschen mit Handicap selbstverständlich und von vornherein ins „Normale“ einzubeziehen.
Beim Musizieren geschieht dies schon häufig. Das Projekt von Barbara Metzger, das Schüler mit Förderbedarf und Senioren mit Demenz zusammenbringt, ist nur ein Beispiel. Menschen mit Behinderung Lust auf Musik zu machen und sie musikalisch zu fördern, ist für Musikschulen seit Jahrzehnten selbstverständlich, bestätigt Winfried Richter, Bundesvorstand des Verbands deutscher Musikschulen (VdM). „Das gemeinsame Musik-Erleben öffnet Wege zueinander“, so der Leiter der Musikschule der Stadt Pinneberg. Ohne diese Möglichkeit würde ein wichtiger kultureller Sozialisationsfaktor fehlen: „Isolation statt Inklusion wäre die Folge.“ Angebote für Menschen mit Behinderungen gehörten darum zum Pflichtenkatalog öffentlicher Musikschulen.
Musikschulen befähigen Menschen, musikalisch mündig zu handeln. Schon in Eltern-Kind-Gruppen wird damit begonnen, die eigene musikalische Identität zu entfalten. Menschen mit und Menschen ohne Behinderung, Menschen mit und solche ohne Migrationshintergrund wirken auch in Musikschulchören, Orchestern und Ensembles mit. „Dies ermöglicht eine Persönlichkeitsentwicklung, die zu einem kritikfähigen kulturellen Selbstverständnis führt“, so der VdM-Vorsitzende.
„Musik integrativ“ in Fürth
Dass Menschen mit Behinderung patente Musiker sein können, wird am Beispiel des Projekts „Musik integrativ“ in Fürth deutlich. Mit individuell angepassten Formen des Unterrichts werden Berührungsängste beeinträchtiger Menschen gegen Musikschulen abgebaut. Wobei der Begriff „individueller Unterricht“ nicht falsch verstanden werden dürfe, warnt Schulleiter Robert Wagner, der seit 2000 bundesweit für die Ausbildung von Musiklehrern für das Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung verantwortlich ist. Ein prinzipieller Unterschied zum Unterricht von Menschen ohne Behinderung existiere nicht.
In Fürth haben auch Musiker mit Handicap eine reelle Chance, ihr Können einmal vor Publikum zu beweisen. Wie viel Spaß das macht, erfahren die Mitglieder der Fürther Musikschulgang „Vollgas“ bei ihren Auftritten. „Vollgas“ ist eine von inzwischen zahlreichen Bands, die aus behinderten und nicht behinderten Musikern besteht. In der Musik- und Kunstschule Osnabrück etwa wirkt die „Takkatina“-Band, in der 15 Musikbegeisterte mit Handicap mitwirken. Seit über 15 Jahren existiert in der Chemnitzer Musikschule das integrative Projekt „Motus“ mit Menschen aus einer Behindertenwerkstatt sowie nicht behinderten Musikern.
Auch Schlagersänger Guildo Horn versucht, das Thema Inklusion in der Musik voranzubringen. Der studierte Musiktherapeut moderierte unter anderem für den SWR die Talksendung „Guildo und seine Gäste“, in der Menschen mit geistigem Handicap zu Wort kamen. Dafür wurde er mit dem Medienpreis der Lebenshilfe ausgezeichnet. 2011 startete Guildo Horn gemeinsam mit der Lebenshilfe Deutschlands erstes Casting für Musiker mit Behinderung.
Guildo Horn gibt Menschen mit Behinderung nicht nur eine Chance, einmal im Rampenlicht zu stehen. Durch seine Projekte zeigt er, wie leistungsfähig Frauen und Männermit Handicap sind. „Sollte ‚Show’ dabei helfen, warum nicht“, kommentiert Robert Wagner pragmatisch. Auch die von Fürth 2007 etablierte Reihe „Integrativer Soundfestivals“, die in Fürth, Dortmund, Hannover und Wien stattfinden, verstünden sich als ein „Event“, das fruchtbare menschliche Begegnungen und Professionalisierung sichtbar macht. Wagner: „Dies muss aber in einen Prozess münden, der die Ausbildungsinitiativen vor Ort tatsächlich stärkt.“
„Noch sind es Initiativen einzelner“
Denn dass an Musikhochschulen gelegentlich ein Modul angeboten wird, das in Kontakt mit dem Thema „Inklusion“ bringt, genüge nicht, kritisiert Wagner: „Die Musikhochschulen haben das Thema bisher kaum wahrgenommen.“ Geschweige denn, dass sie einen Auftrag aus der Behindertenrechtskonvention abgeleitet hätten. Anders als viele Initiativen, Lebenshilfe-Werkstätten, religiöse Gruppen und Musikschulen, wo Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam musizieren: „Insgesamt betrachtet sind es ohnehin immer nur Initiativen einzelner Musikpädagogen.“
Seinen Worten zufolge gilt es, sich davor zu hüten, alles, was gemeinsam nach außen tritt, gleich als „inklusiv“ anzupreisen. Denn sind es wirklich Menschen mit Behinderung, die in einer „inklusiven“ Band Musik machen? Prägen sie die Gruppe musikalisch gestaltend mit? Musizieren sie wirklich auf Augenhöhe mit den nichtbehinderten Bandmitgliedern? Oder sind sie nur „rhythmisches Beiwerk, das rasselt und trommelt“? Bei einer qualitativen Sichtung ist die Bilanz für Wagner eher erschreckend: „Wobei ich dennoch nahezu jede Initiative begrüße, die Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft holt.“
„Normalität“ ist eines der wichtigsten Kennzeichen gelungener Inklusion. Das von Robert Wagner im 2009 auf den Weg gebrachte, bundesweite Pilotprojekt „Berufung Musiker“ ist darum an einer ganz normalen Musikschule, nämlich an der von ihm geleiteten Einrichtung in Fürth, angesiedelt. Zwei Jahre lang besuchen acht Mitarbeiter der Lebenshilfe-Werkstatt Dambach an drei Vormittagen jede Woche ihren „Außenarbeitsplatz Musikschule“. Hier erlernen sie ein Instrument und musizieren miteinander in einer Band.
Es fehlt an Rückhalt in der Politik
Die Krux beim Thema „Inklusion“ ist, dass es dieses Menschenrecht nicht umsonst gibt. Inklusion ist laut Wagner eine „Vision, die in den Köpfen aller beginnen muss, Geld kostet, Rahmenbedingungen und pädagogisches Handwerk braucht“. Noch hapere es an vielem. Vor allem an Rückhalt in den Institutionen, in der Politik und der Gesellschaft.
Allein die Vorbereitung von musikpädagogisch geschulten Fachkräften für einen inklusiven Musikunterricht kostet Geld, gibt ihm die Würzburger Professorin Barbara Metzger recht. Zwar sei elementare Musikpädagogik grundsätzlich für ein Musizieren in heterogenen Gruppen ausgerichtet. Doch es gebe Grenzen des Miteinanders. Zum Beispiel dann, wenn alle freudig singen, sich bewegen, tanzen oder ein Instrument spielen – aber ein Gruppenmitglied von all dem emotional unberührt bleibt. Oder es erlebt beim Spielen eines Instruments im Vergleich zu den anderen deutlich mehr Frust als Freude. Manche Menschen können auch darum nicht mit anderen musikalisch zusammenarbeiten, weil sie die Lautstärke nicht ertragen. Wie solche geräuschempfindlichen Menschen speziell mit Musik angesprochen werden können, auch dies ist etwas, was in der Vorbereitung auf den Beruf vermittelt werden muss.
Wer inklusives Musizieren will, dem bleibt also übrig, als in den sauren Apfel „Geld“ zu beißen, so Metzger. Sowohl in Schulen, Kindertagesstätten, Heimen als auch im Freizeitsektor müsse deutlich mehr investiert werden. Im Idealfall würde es in all diesen Einrichtungen kleinere Gruppen geben, die so miteinander musizieren, dass die Qualität der musikalischen Äußerung gewahrt und gleichzeitig stets im Bezug zu den individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen gesehen wird.