Eine originelle Methode, die zeitgenössische Musik aus der Spezialistenecke herauszuholen, hat das Philharmonische Staatsorchester mit seinem GMD Hermann Bäumer entwickelt. „Auf Wiederhören!? … reingehört und kommentiert – Musik der Gegenwart“ heißt das neue Konzertformat, das nun zum zweiten Mal im Kleinen Haus des Staatstheaters zu erleben war.
Über Musik im Konzert zu sprechen, ist traditionell eher verpönt. Langwierige Einführungsvorträge sind gefürchtet. Wie soll aber dann Ungewohntes und Komplexes das Publikum erreichen? Einen schwierigen Satz in einem Buch kann man mehrmals nachlesen, ein rätselhaftes Objekt in einem Museum von vielen Seiten betrachten und mit anderen darüber sprechen. Erklingende Musik aber ist im nächsten Moment schon wieder verschwunden und schlicht nicht mehr greifbar. Hermann Bäumers Idee: Drei moderne Stücke werden präsentiert und diskutiert – unter der Frage, welches davon noch einmal im regulären Sinfoniekonzert gespielt werden soll. Am Ende darf das Publikum abstimmen.
Wie so oft steckt der Teufel im Detail, und die richtige Methode entscheidet, ob ein gutes Konzept wirklich funktioniert. An diesem Abend klappt es ausgezeichnet. SWR-Musikredakteurin Sabine Fallenstein stellt die Stücke vor. Danach erklingt die Musik. Und dann darf sich das Publikum über die im Zuschauerraum verteilten Mikrophone zu Wort melden – spontan oder nach einem von Fallenstein gesetzten Gesprächsimpuls. Egal, ob es sich um analytische Beobachtungen, bildhafte Assoziationen oder emotionale Eindrücke handelt – Bäumer greift immer wieder Aussagen auf, bindet sie an die Musik zurück, erläutert Hintergründe und Details. Oft lässt er das Orchester Ausschnitte aus der Musik spielen: „Zu dem, was Sie da gerade sagen, passt diese Stelle. Wir spielen einen Takt vor V.“ Manchmal nimmt der GMD den Ausschnitt noch weiter auseinander und lässt ihn langsamer spielen oder nach Instrumenten getrennt. Auch die Orchestermitglieder werden nach ihren Erfahrungen befragt. Das Publikum zeigt sich aufmerksam, sachkundig und diskussionsfreudig.
Die Aufgabe, sich zu entscheiden, ist nicht einfach. Schon die Titel der Stücke geben Rätsel auf, und ein Diskussionspunkt ist denn auch, ob die Überschriften oder dahinter stehende bildliche oder programmatische Vorstellungen überhaupt wichtig sind für den Hörer. Von Andrew Norman, einem 1979 geborenen US-Amerikaner, stammt das erste Werk: Die 2011 entstandene Kammerversion eines schon 2008 entstandenen Orchesterstücks namens „Unstuck“. Der Titel, der sich einem Satz aus dem Roman „Schlachthof Fünf“ des amerikanischen Autors Kurt Vonnegut verdankt, bedeutet hier soviel wie „von der Zeit gelöst“ oder „aus der Zeit gefallen“. Tatsächlich kommen neue und traditionelle Momente auf überraschende Weise zusammen. Wilde Tonleiter-Passagen, Glissandi-Effekte und harte Akzente signalisieren Modernität, aber wenn man genauer hinschaut, findet man einfache Dreiklänge und sogar das alte Schema der Sonatenhauptsatzform wieder.
„Scales“, das zweite Stück, stammt von dem früh verstorbenen französischen Komponisten Christophe Bertrand (1981-2010). Man kann den Titel mit „Skalen“ übersetzt, oder mit „(Fisch-)Schuppen“, wie ein englischsprachiger Zuhörer einwirft, oder auch mit „Waagschalen“. Vieles spricht zunächst für „Skalen“, denn Bertrand arbeitet mit Tonleitern in rasantem Tempo, die sich von Instrument zu Instrument verschieben, dazu gibt es mittendrin eine Phase mit donnernden Trommeln und Pauken – so laut, dass sich die davor sitzenden Musiker die Ohren zuhalten. Das Stück sorgt auch im Orchester für Kontroversen. Flötistin Therese Geisler findet es faszinierend, obwohl sie an ihre physischen Grenzen kommt. Bratschist Malte Schaefer lehnt es entschieden ab, weil es ihm nichts sagt und er es für unspielbar hält. Der GMD gibt zu, dass die Musiker nur Näherungswerte erreichen können, findet das aber nicht schlimm. Dem großen Beethoven sei es bei der Uraufführung der „Eroica“ auch nicht besser gegangen. Aber er lässt auch nur den ersten Teil spielen; der Rest sitzt noch nicht gut genug.
Dass Musik emotional ansprechen soll, ist im Publikum unstrittig. Nur, so zeigt sich, sind die Menschen unterschiedlich ansprechbar, und Emotionalität und Konstruktion stehen in einem unberechenbaren Verhältnis zueinander. Eine Hörerin hört in „Scales“ einen herbstlichen Schwarm aufgeregter Zugvögel heraus, der zwischenzeitlich vor drohender Gefahr verstummt – ein sinnfälliges, plausibles Bild. Sabine Fallenstein aber weiß beizutragen: Das Werk ist streng nach der mathematischen Fibonacci-Reihe aufgebaut.
Nach der Pause geht es ruhiger zu. In seiner „Monodie für 18 Instrumente“ von 1998/99 lässt der österreichischen Komponist Georg Friedrich Haas (Jg. 1953) eine Art Klangfaden langsam von Instrument zu Instrument wandern. Dazu kommt ein Hintergrund aus feinen rhythmischen Impulsen und kleinen melodischen Abweichungen, die manchmal nur einen Viertel- oder Sechsteltonabstand betragen. Eine Hörerin fühlt sich hier wohlig in einen warmen Teppich eingehüllt, ein Hörer eher von diesem Teppich erstickt. Das führt zu einer kleinen Kontroverse, ob Männer anders als Frauen hören, und dem Vorschlag, nach Geschlechtern getrennt abzustimmen.
Dazu kommt es aber nicht, und nach drei Stunden Konzert und fünf Minuten Auszählung steht fest: Gewonnen und ins 3. Sinfoniekonzert geschafft hat es „Scales“ mit 66 Stimmen vor „Unstuck“ mit 49 und „Monodie“ mit 38. Ich bin’s zufrieden, es ist genau meine Reihenfolge. Aber wäre es sie auch gewesen, wenn die ruhige „Monodie“ früher dran gewesen wäre – und ich noch etwas wacher? Eigentlich hätten alle Stücke eine Wiederholung verdient. Doch ohne den Zwang zur Entscheidung wäre wohl kaum so anregend diskutiert worden.
Erst nach dem Konzert stoße ich auf eine weitere Frage. Christoph Bertrand, der Komponist von „Scales“, galt als große Hoffnung der französischen Musik. Die Recherche nach seinem frühen Tod führt zu der erschütternden Nachricht, dass der junge Mann an einer schweren bipolaren Störung litt und seinem Leben selbst ein Ende setzte. Was aber bedeutet das für das Verständnis seiner Musik? Haben Manie und Depression ihre Spuren hinterlassen? Bedeutet „Scales“ vielleicht doch „Waagschalen“ und handelt von der verzweifelten Suche nach einem seelischen Gleichgewicht? Oder ist es doch besser, um sie nicht als krank zu stigmatisieren, die Musik ohne diesen biographischen Zusammenhang zu hören? Darf man den aber ausblenden? Immerhin leiden zwischen ein- bis zwei Millionen Menschen in Deutschland an einer bipolaren Störung und tragen damit ein um das 20-fache höhere Suizidrisiko als der Rest der Bevölkerung. Wie auch immer: Im Bewusstsein der Hintergründe hätte ein unzufriedener Orchestermusiker nach der Auszählung wohl kaum geschimpft, „Scales“ sei „das überflüssigste Stück des 21. Jahrhunderts“.