Erst im 20. Jahrhundert wurde die im Jahre 1600, noch vor der Drucklegung von Jacopo Peris „Euridice“, in Florenz uraufgeführte „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ von Emilio de' Cavalieri wiederentdeckt. In der Inszenierung und Ausstattung von Achim Freyer spielt die jüngste Staatsopern-Premiere im Schillertheater auf einer bis zur Hinterbühne führenden Schräge, wo die himmlischen Musici (hohe Streicher, eingerahmt von zwei Harfen, sowie Orgel) hinter einem Gazeschleier spielen, während Continuo, Fundament- und Ornamentinstrumente, sowie die Choristen, an beiden Seiten der Schräge platziert sind. Das Leben, durch welches die allegorischen Titelfiguren Seele und Körper in diesem Spiel wandeln, ist ein Freyerscher Circus.
Der fast 80-jährige Brecht-Schüler Achim Freyer setzt auch bei Cavalieri auf den Brechtschen V-Effekt: Sänger stellen Puppen dar, die ihrerseits Menschen verkörpern. Scheinwerfer und Effekte, auch Umkostümierungen, werden für das Publikum sichtbar vollzogen, welches kein Vorhang vom Geschehen trennt. Das Auditorium ist die diesseitig oppositionelle Verlängerung zum Himmel. Über dem Publikum kreist eine mächtige Spiegelkugel und flackern diverse Leuchtobjekte.
Die uniform schwarz gewandeten Mitwirkenden werfen ihre Hüte auf ein zum mittelalterlich definierten Himmel führendes, in bezifferten Kästen definiertes Spielfeld, das mit geschminkten Gliederpuppen bestückt und von einem kopflosen Riesen mit menschlichen Knochen angereichert wird. In UV-Licht tanzen überdimensionierte Gerippe einen Totentanz, und ein weißer Hase überragt das Geviert seines Stalles.
Insbesondere in der lustvollen Welt des zweiten Aktes ist Freyers buntes Panoptikum recht am Platze, mit zahlreichen schon anderweitig aus seinen Inszenierungen bekannten Figuren, blauem Pferdekopf, geritten zu Kastagnetten, umspielt von Seifenblasen, Höllendämpfen, Federn Luftballons, und Pyroeffekten, sowie Lichtreklame. Neu ist hingegen, dass der auch in den USA als Regisseur erfolgreiche Freyer nun auch Andy Warhol zitiert: eine Dame in Blau trägt eine Papiertüte mit Warhols berühmtem, seriellem Bild von Marilyn als Kopf.
Der Opernchor – im Gegensatz zur Originalvorlage auch selbst am Spiel beteiligt – mischt sich trefflich mit einem zwölfköpfigen Madrigalensemble und mit dem für Freyers Arbeiten obligatorischem Freyer Ensemble. Repetierende Gesten formalisieren die Handlung der allegorischen Personen Intellekt und Genuss (Mark Milhofer), des lustvollen Lebens (Luciana Mancini), wie die diverser Engel und seliger Geister. Zu Recht gefeiert werden der Tenor Andreas Weisse und der Mezzo Marie-Claude Chappuis in den Titelpartien, sowie Marcos Fink als Welt und zweiter Begleiter des Genusses.
In den kleinen Rollen imponieren Thoma Wutz und Raphael Zinser, Knabensolisten des Staats- und Domchores, zusätzlich aufgewertet durch eingefügte, gesprochene Texte zu Anfang der drei Akte. Die Partie des Tempo (Gyola Orendt) wünschte man sich jedoch mit einem fundamentalen Bass besetzt, wie bei der Wiederaufführung anlässlich der 25. Internationalen Orgelwoche, 1976 in Nürnberg, mit Sven-Anders Bektsson unter Hans-Martin Linde, glücklicherweise auch auf Schallplatte (EMI 063-30 130/31) festgehalten.
Die Raumklang-Lösung der 91 Nummern umfassenden Partitur folgt im Schillertheater den Intentionen des Komponisten, der sein frühes Gesamtkunstwerk bei der Uraufführung im Oratorio della Vallicella mit Fernorchestern und Fernchören sowie mit allerlei Theatermaschinerie angereichert hatte. Cavalieri, der eine halbe Generation vor Monteverdi wirkte, war selbst auch Choreograph und Tänzer, und so verwundert der Tanzduktus seines Jubels nicht. Cavalieris Bemühung hingegen, der himmlischen Unendlichkeit beim lieto fine durch Ausdehnung des Glücksmoments zu entsprechen, gelang ihm eben so wenig, wie späteren Komponisten oder Regisseuren der immer wieder unternommene Versuch, ein (filmisches) Happy End zu verlängern.
Gleichwohl steuert René Jacobs, der selbst die Aufführungsfassung erstellt hat, einen beachtlichen Schritt in jene Richtung bei: Cavalieris letztes Thema wird von immer anderen Instrumenten solistisch aufgegriffen, klanglich ausgedeutet und weitergereicht: Auf solche Weise erscheint Cavalieris „Corrisponda al Paradiso“ als früheste Antizipation des Umgangs mit Klangmaterial im 20. Jahrhundert.
Das Zusammenspiel von Musik und Szene gelingt optimal, Solovioline, Kastagnetten und Tamburin auf der Szene, – wohingegen die E-Gitarre eines der beiden schnurrbärtigen Genuss-Begleiters ebenso eine Attrappe ist, wie ein grün gefärbtes Cello auf der Bühne. René Jacobs, einsam im Graben vor der Szene, leitet die früheste erhaltene Opernpartitur eruptiv und mit gewohnter Präzision. Bereits im langsamen Teil der Einleitung setzt er auf die Wirkung räumlich verstärkter Terrassendynamik, im Wechselspiel der Harfen, Flöten und Violinen auf der linken und dreier Theorben, Violoncelli und Blechbläser auf der rechten Bühnenseite.
Unter der Normaluhr ohne Minutenzeiger vergehen die gut anderthalb Stunden der pausenlosen Aufführung zwar nicht im Fluge, aber doch kurzweilig gewürzt.
Möglicherweise als Auswirkung der Eröffnung der Fußball-Europameisterschaft, war die Premiere merklich schlecht verkauft, aber die Anwesenden feierten alle Beteiligten einhellig und emphatisch.
Cavalieris Uraufführungsproduktion der „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ hatte nur zwei oder drei Vorstellungen erlebt und war blieb dann für über dreihundert Jahre ungehört; in Berlin sind immerhin noch drei weitere Aufführungen angekündigt.
Weitere Aufführungen: 13., 15. und 17. Juni 2012.