„New Art is true Art.“ Eigentlich gehört der Ausspruch eines exzentrischen Kunstsammlers aus Kurt Weills Musical One Touch of Venus in einen durchaus ironischen Kontext. Doch die Kurt-Weill-Gesellschaft in Dessau hat den Satz beim Wort und zum Motto des Kurt-Weill-Festes 2010 genommen. Sie vergab zwei Kompositionsaufträge für ein „Songspiel“ – also jene Miniaturform von Musiktheater, die Weill 1927 mit dem „Mahagonnny-Songspiel“ für das Neue-Musik-Festival in Baden-Baden erfand, aber danach nicht mehr weiter entwickelte – nicht zuletzt, weil er 1933 aus Deutschland fliehen musste.
Gleich zwei Komponisten nahmen die Herausforderung an: Moritz Eggert mit einer „Bordellballade“ für die Dessauer Bauhausbühne (Uraufführung am Donnerstag, den 4. März), und Helmut Oehring mit einem „Kleinen epischen Songspiel mit Interludien“ unter dem Titel „Die Wunde Heine“, das am Eröffnungstag des Festivals seine Uraufführung im Anhaltischen Theater erlebte – im Anschluss an das „Mahagonny-Songspiel“.
Oehring, der diesjährige Artist-in-Residence des Weill-Festes, ist eine faszinierende Persönlichkeit. Das Dessauer Publikum erlebte den Sohn taubstummer Eltern, der es vom Hobbygitarristen ohne Notenkenntnisse zum Meisterschüler Georg Katzers brachte, in einer lebendigen Festivalcafè-Veranstaltung. Oehring sieht sich bei allem Respekt vor dem Komponisten und dem Menschen Weill selbst in einer anderen Tradition. Seine kompositorische Entwicklung ist einerseits geprägt durch die jugendlichen Erfahrungen mit Rockmusik, andererseits durch eine Traditionslinie der Neuen Musik, die von Arnold Schönberg über Hanns Eisler zu Georg Katzer, Friedrich Goldmann und Friedrich Schenker führt.
Diese beiden Linien zeigen sich auch in „Die Wunde Heine“. Oehring hat verschiedene Gedichte von Heinrich Heine in einem Stil komponiert, der zwischen expressionistischen Linienführungen, punktuellen oder choralartig geballten Haltetönen, pulsierenden Jazzrhythmen und differenziert behandelten Sprechchören wechselt. Eindrucksvoll ist dabei vor allem das ausdrucksreiche Duett zwischen Sopranstimme (Salome Kammer) und Kontrabassklarinette geraten. Auf der anderen Seite hat Oehring, wohl auch als Antwort auf Weill, in seiner Partitur „Rocksong-Inseln“ ausgespart. An diesen Stellen singt der Rocksänger und -gitarrist Jörg Wilkendorf Lieder des 1996 verstorbenen Rocksängers Rio Reiser. Vor allem mit dem alten Ton-Steine-Scherben-Lied „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ließen sie den rebellischen Geist der 1970er Jahre wieder aufleben, der inzwischen ebenfalls Geschichte geworden ist. Dass sich vor der Fest-Eröffnung zahlreiche Dessauer Bürger und Kulturschaffende zu einer Demonstration gegen einen drohenden kulturellen Kahlschlag versammelten, der seinesgleichen sucht, gab dem Eröffnungsabend eine bittere Note von unerwarteter Aktualität.
Inhaltlich strotzt „Die Wunde Heine“ von Verweisen. Der Titel spielt einerseits an auf die deutschen Schwierigkeiten im Umgang mit dem 1856 im Pariser Exil verstorbenen deutsch-jüdischen Dichter und seinem Werk, andererseits auf das langsame Dahinsiechen Heines in seinen letzten Lebensjahren. Mit dem Obertitel „Offene Wunden“ für den Eröffnungsabend des Weill-Festes wird eine Parallele zur lange Zeit problematischen Weill-Rezeption gezogen. Darüber hinaus halten Oehring, der selbst als Regisseur zeichnet, und seine Textautorin und Co-Regisseurin Stefanie Wördemann den Dichter Heine nach wie vor für aktuell. Rio Reisers Songs mögen hier als Querverweise gedacht sein, textlich sind sie allerdings deutlich gröber gestrickt. Von Heines Ironie, einer wichtigen Facette seiner Dichtungen, bleibt in „Die Wunde Heine“ kaum etwas.
Sänger Wilkendorf trägt im Stück den Rollennamen Harry – in Anspielung auf Heinrich Heines ursprünglichen Vornamen. Ihm beigesellt ist die Vokalsolistin und -artistin Salome Kammer; sie steht einerseits für Heines Ehefrau Mathilde, andererseits sehen die Autoren sie als „Schwester“ des französischen Nationalsymbols Marianne. Ein Vokalquintett, verkörpert durch die Sopranistin Sylvia Nopper und die vier Herren des Atrium Ensembles, wird mit den Buchstaben H,E,I,N und E, bezeichnet. Sie stehen als „Geister“, so die Idee, „für die vielen Stimmen seines komplexen patriotischen Ichs“, agieren allerdings fast immer im Kollektiv. Die szenische Umsetzung fügt weitere Facetten hinzu. Oehring hat an etlichen Stellen parallel zum Vokalpart Gebärdensprache vorgeschrieben, der er gegenüber der Wortsprache eine tiefer gehende Unmittelbarkeit zuschreibt. Auf der Bühne fällt sie allerdings kaum ins Auge - außer an den Stellen, wo sie schemen- bis fratzenhaft verfremdet hinter einer halbtransparenten Glasplatte zu sehen ist.
Analog zu Weill und Brecht, deren Songspiel 1927 durch Projektionen des Malers und Bühnenbauers Caspar Neher kommentiert wurde, setzen auch Oehring und Wördemann auf Video-Bebilderung. Doch wo Neher mit wenigen statischen Bildern klare Akzente setzte, bringt der Maler und Graphiker Hagen Klennert zahlreiche Illustrationen, die er zum Teil verschiebt, verkleinert und vergrößert. Während er zum „Mahagonny-Songspiel“ relativ klar das Milieu einer heruntergekommen Barackenstadt zeichnet, orientiert er sich bei Oehrings Songspiel an der Biographie Heines und dem morbid-pessimistischen Unterton der ausgewählten Gedichte, verfährt dabei aber oft plakativ und überschreitet des öfteren die Kitschgrenze.
Aus all dem resultiert ein Konglomerat von Eindrücken und Assoziationen, die sich gegenseitig eher lähmen als befruchten. So gesehen, ist „Die Wunde Heine“ der ehrliche Spiegel eines dramaturgischen Scheiterns. Oehrings Heine-Vertonungen sind indessen eine Wiederbegegnung wert. Sie waren beim von Frank Ollu dirigierten Ensemble Modern in guten Händen. Nicht zu Unrecht gab es Premierenjubel für eine ausdrucksgeladene und präzise Aufführung.
Die Aufführung wird am 4. Mai von der Musik Triennale Köln und am 27. Juni von der Oper Frankfurt übernommen.