Patrick Hahn ist der Gewinner des erstmals ausgeschriebenen Reinhard Schulz-Preises für zeitgenössische Musikpublizistik. Der Preis wird am 6. Oktober um 21 Uhr im Anschluss eines Konzerts des Klangforums Wien beim musikprotokoll im steirischen herbst in Graz verliehen. Für die Oktober-Ausgabe der nmz hat er sich aus Anlass einiger Festivalprogramme und des Cage-Jahres Gedanken über metaphysische Gewohnheiten gemacht.
Vor der Box mit der nackten Frau gibt es die längste Schlange. Kunstpublikum ist auch nicht anders. Eine Box weiter im Essener Folkwang-Museum herrscht ein Kommen und Gehen wie in einem Taubenschlag. Im Zentrum des ansonsten leeren Raumes sitzt ein Mann an einem Tisch und fordert die Besucher zum Tausch auf: Wer ihm einen Gegenstand überlasse, könne das jeweils andere vor ihm liegende Objekt mit nach Hause nehmen, es sei dann Kunst. Der Akteur in Roman Ondáks „Live-Art-Performance“ Swap entlockt den Handtaschen der Umstehenden Gutscheine und Taschenkalender, beschmierte Zettel und Wohlstandsmüll. Als eine Dame ein schwarzes, verknotetes, für die Entsorgung von Hundekot geeignetes Säckchen reicht, gerät der Akteur in Verzückung. Seine Begeisterung schlägt um in Enttäuschung als er feststellen muss, dass der Beutel leer ist: „Da ist ja nichts drin, das ist doch keine Kunst“, ruft er der Dame hinterher, die bereits in der Masse untergetaucht ist.
Der Akteur hatte unrecht, denn natürlich war der Beutel nicht leer, „Essener Luft“ wäre vielleicht ein guter, duchampesker Titel für dieses „Werk“ gewesen. Und er hatte unrecht, denn muss Kunst tatsächlich etwas „beinhalten“? Ist eine solche „inhaltistische“ Forderung, wie der Schriftsteller Rainald Goetz ätzen würde, nicht hoffnungslos aus der Zeit gefallen? Besuche auf einschlägigen Musik(theater)festivals könnten den aufmerksamen Beobachter gegenwärtig zu diesem Schluss veranlassen. Denn neben der bemühten Feier wiederkehrender enzyklopädischer Ereignisse – 100. Geburtstage, 200. Geburtstage – denen, wie Klaus Zehelein so treffend formuliert hat, keinerlei „künstlerische Relevanz“ zukommt, haben sich die europäischen Festivals in diesem Sommer vor allem Glaubensfragen gewidmet. Sei es in Salzburg, wo man dem Starrummel eine „Ouverture spirituelle“ vorgeschaltet hatte, sei es in Luzern, wo die Programmmacher dem Publikum ein „Credo“ abgenommen haben, oder auch beim Musikfest Stuttgart, wo die Internationale Bachakademie ihren Besuchern „Glaube“ versprach. Denken hat offenbar derzeit weithin als überbewertet zu gelten.
Wie sonst ließe sich die nach wie vor ungebrochene Konjunktur von Stockhausens Schaffen begründen, dessen „Mittwoch aus Licht“ vor Kurzem im Beiprogramm der Olympiade aufgeführt worden ist? Wie erklärt man sich andernfalls die Wiederaufführung eines archaisch-wuchtigen, ritualhaften Rätselwerkes wie des Prometheus von Carl Orff, das vom Komponisten als hermetisches Humanistenfest auf Altgriechisch angelegt und bei der Ruhrtriennale auch als solches statuarisch bebildert worden ist?
Nur scheinbar widerspricht die Konjunktur dieser Überwältigungsspektakel der „Celebration“, die das Schaffen von John Cage in diesem Jahr erfahren hat. John Cages Leistung liegt nicht allein darin, die „eurozentristische Pose des Gipsbüstenkomponisten“ (Bernhard Lang) zertrümmert zu haben. Sie ist auch jenseits der Apotheose des Alltäglichen zu suchen, die in Cage-Aufführungen über die Konzertsäle hereingebrochen ist. Der Einbruch des Gewöhnlichen in seine Musik ist nichts anderes als die Konsequenz aus der rituellen Praxis, in die er das Musizieren überführt. Anders als die christliche Religion, die vorwiegend auf dem Akt des Glaubens beruht – glaube es oder nicht – beruht die buddhistische Religion auf Praxis: tu es oder tu es nicht. Während die westliche Religion vom Hoffen und Warten auf göttliche Gnade geprägt ist, strebt die fernöstliche Religion nach einem Leben im Einklang mit dem Universum: in Harmonie. Die Leere, um die das Schaffen von John Cage kreist, ist randvoll mit Buddhismus.
Solches Wissen ist heute unter Musikliebhabern ein Gemeinplatz, denn das Jahr bot ausreichend Gelegenheit, sich mit der Präzision des I Ging, der Schönheit der „Synchronicity“, den Unwägbarkeiten der „Indeterminacy“ und der lässigen Selbstgewissheit „anarchischer Harmonien“ zu beschäftigen. Doch die Hoffnung, dass die häufige Aufführung jenes Komponisten, der wie kein Zweiter im 20. Jahrhundert das musikalische Denken gewandelt hat, dem Musikleben wieder neue Impulse verschaffen könnte, scheint sich derzeit nicht zu bestätigen. Ausgetreten wirken die Kiespfade im Zen-Garten, unecht die Steine darin.
Die große Wirkung, die John Cage seit seinem ersten Auftritt in Darmstadt 1958 ausgeübt hat, wurde durch das geschichtliche Umfeld begünstigt. Während die europäischen Avantgarde-Komponisten mit einem Neubeginn rangen, nahm Cage mit seinem „bis zu jenem Zeitpunkt noch nie ausgesprochenen, noch viel radikaleren Vorschlag, die Vergangenheit ganz einfach auszulöschen, sie zu ignorieren“, so die Musikwissenschaftlerin Anne Shreffler, „den zentralen Punkt des Problems in den Blick. Er demontierte die Vorstellung von der ‚Stunde null’ als eine Fiktion und traf so mitten in die Spannungen zwischen Tradition und Fortschritt.“
Dass die Radikalität dieses Ansatzes heute so selten spürbar wird, könnte damit zusammenhängen, dass es eine existentielle ästhetische Debatte wie sie die Nachkriegsavantgarde geführt hat, derzeit nicht gibt.
Während im 19. Jahrhundert die Ästhetik die Leerstelle der Metaphysik besetzte, wird die Ästhetik derzeit wieder mit metaphysischen Gehalten aufgeladen – und erübrigt dadurch ihre Diskussion. Metaphysik beginnt jenseits der Erfahrung. Vielleicht aber steht uns Cages Ansatz zur Überwindung der Subjektivität auch deswegen so fremd gegenüber, weil es lange her ist, dass Subjektivität in der aktuellen Kunstproduktion eine Rolle gespielt hat. Sie müsste mehr sein als die geläufige Verbindung von Gewohnheit und Geschmack. Ein Ort, an dem die Freiheit beginnt.