Komponistinnen werden in unserem alltäglich Konzertbetrieb noch immer viel zu wenig wahrgenommen und gewürdigt – das ist leider so! Dieser ist noch immer von den Wünschen und den Vorlieben einer oft männlichen und in jedem Fall bürgerlichen Denkstruktur geprägt. Dadurch berauben wir uns eines großen Fundus‘ von wunderbarsten Kompositionen, die gehört zu werden jedes Anrecht haben! Viel zu lange haben Komponistinnen im Schatten einer männlich-patriarchalen Unterdrückung gestanden. Auf dem Tübinger Musikfest „Komponistinnen“ waren fast unzählige einzigartige Werke von Frauen zu hören, die man sich im „täglichen“ Konzertbetrieb wünscht. Vielleicht ist hier in Tübingen ein kleines „Apfelbäumchen“ (wie Martin Luther es nennen würde), das bald „allüberall“ Früchte trägt.
Großer Dienst an großen Lücken – das Tübinger „Komponistinnen“-Musikfest 2023
„Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören“, schreibt die Pianistin und Komponistin Clara Schumann am 2. Oktober 1846 in ihrem Tagebuch. Wären die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ihrer Zeit anders gewesen, würde man einen solchen Satz möglicherweise als Platitüde abtun. Der leicht verhaltene Minderwertigkeitskomplex in der Fortführung dieses Tagebucheintrages aber offenbart ein erschreckendes Weltbild: „Natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt“. Küche, Kirche, Kinder und die besondere Pflege des Mannes waren die Aufgaben der Frauen. Mehr wurde von ihnen nicht erwartet, mehr wurde ihnen häufig von der männlich-patriarchalen Welt nicht zugestanden. Nichtsdestoweniger gab es sie schon damals: Die Komponistin.
Groß angelegtes Festival
„Dass überhaupt nur wenige Komponistinnen allgemein bekannt sind, ist das Ergebnis langjähriger Geringschätzung, Herabsetzung und Benachteiligung“, sagte die baden-württembergische Landtagspräsidentin, Muhterem Aras, als Schirmfrau bei der Eröffnung des Tübinger Musikfestes 2023, das unter dem Motto „Komponistinnen“ stand. Ein geradezu gigantisches und in jeder Hinsicht vielfältiges Programm hatte man sich dort vorgenommen. So umfasste das Angebot mehr als 50 Veranstaltungen: Konzerte, Vorträge, musikalische Gottesdienste, Filme, Mitmachformate, eine Ausstellung, eine (natürlich musikalische) Stadtführung, ein mehrtägiges musikwissenschaftliches Symposium, den 1. Josephine Lang-Wettbewerb für Lied-Duo und ein 158seitiges Programmbuch.
Der Schwerpunkt des zehntägigen Festivals vom 29. September bis zum 8. Oktober lag auf Komponistinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt standen insbesondere die in München geborene Josephine Lang (1815 – 1880), die durch ihre Heirat mit dem Dichter und Rechtsgelehrten Christian Reinhold Köstlin nach Tübingen gekommen war, dort den größten Teil ihres Lebens verbrachte und verstarb, und ihre drei Zeitgenossinnen Emilie Mayer (1812 – 1883), Luise Adolpha Le Beau (1858 – 1944) und Ethel Smyth (1850 – 1927). Die erste Hälfte des Festivals war Lang und Mayer gewidmet, die zweite Le Beau und Smyth. Laut Veranstalter ermöglichen „diese Doppelporträts die Skizzierung der musikalischen Netzwerke ihrer Zeit, durch die die Komponistinnen verbunden sind. Sie ermöglichen auch die Herausarbeitung biografischer und kompositorischer Unterschiede“.
Komponistinnen-Werke in Konzerten: 500 Prozent Zuwachs in 35 Jahren?
Eva Rieger, die Grande Dame der musikwissenschaftlichen Frauenforschung, die auch den Eröffnungsvortrag zum Tübinger Festival hielt, schriebt in ihrem Buch „Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung“ (Vorwort zur dritten Auflage): „Es wurde zunehmend klar, dass der Mann in der Kultur als das handelnde Subjekt feststand und die Frau stets als „das Andere“ ausgegrenzt wurde. Der Mann galt als der alleinige Schöpfer von Kultur und die Frau wurde nicht nur an ihrer Kreativität gehindert, sondern selbst dann, wenn die sich durchgekämpft hatte, als exotischer Einzelfall behandelt“. – Es geht also letztlich wohl um mehr, als die immer wieder im Rahmen des Festivals aufgetauchte Frage „Wer durfte sich Komponistin nennen?“! Da nämlich der Beruf des Komponisten und der Komponistinnen nie eine geschützte Berufsbezeichnung gewesen ist, kann man natürlich Musik unter wissenschaftlich-akademischen Gesichtspunkten untersuchen und kritisieren, letztlich aber kann und darf jeder und jede sich ein Notenblatt und einen Stift nehmen und Musik niederschreiben. Wenn diese Musik das Gemüt des Hörers trifft, bedarf sie keiner weiteren Legitimation. Der Verbleib oder das Verschwinden (gerade eben auch von Werken von Komponistinnen) von Musik gehört leider oft in ein anderes Teilgebiet menschlicher Fehleinschätzungen.
Die Hindernisse des Unbekannten
„Der männlich dominierte Kanon ist festgeschrieben und institutionalisiert, das Publikum möchte Bekanntes hören“, sagt Rieger in ihren Eröffnungsworten. Und: „Die Konzertführer prägen die Wahrnehmung der Konzertbesucher, die ohnehin konservativ eingestellt sind. Die Musik von weißen, westlichen Männern behauptet sich weiterhin in den Konzertsälen und Opernhäusern.“ Rieger weiß, dass man „psychologische Barrieren durchbrechen“ muss, um Neues einzuführen. So sieht sie die große Chance, einen weiblichen Kanon zu schaffen, der derzeit noch ein weißes Blatt Papier ist. – Auf diesem Weg hat sich das Tübinger Musikfest mit seinem vielfältigen musikalischen Blumenstrauß seine Meriten in jedem Fall mehr als verdient! Auch wenn zunächst die alten (meint: bekannten), weißen Frauen herhalten mussten, um diesem weißen Blatt einen Rahmen zu verschaffen.
Bereits die ersten „offiziellen“ Töne des Festivals – Grażyna Bacewicz’s „Ouvertüre für Orchester“ von 1943 – ließen keinen Zweifel über die musikalische Potenz von Komponistinnen offen. Emilie Mayers Sinfonie Nr. 7 f-Moll, die das Eröffnungskonzert beschloß, zeigte, dass es eine Welt jenseits von Beethoven und Mozart gibt. Insgesamt – bis zum Ende – ein Festival, das immer wieder an Stefan Georges „Ich fühle Luft von anderen Planeten“ denken ließ. Ein Festival, das schon im Vorfeld versucht hat, viele Menschen einzubinden – das ist ganz großes Kino! Trotzdem – um nur zwei Stolperfallen zu nennen: ein wenig zu viel bekannte Frauen, zu wenig neue Komponistinnen (Klagen auf hohem Niveau – aber da wäre noch reichlich Luft nach oben gewesen!). Unnötige Bearbeitungen von Kompositionen, wo doch das greifbare Repertoire an Originalkompositionen noch lange nicht erschöpfend dargestellt ist.
Am Ende aber muss man die Augen öffnen und hinsehen! Es ging nicht nur um „Komponistinnen“ – bei weitem nicht! Es ging immer wieder um Frauen [sic!] und ihre absolut existenziellen Rechte und Bedürfnisse. Ein großes (sicher hart erarbeitetes) Geschenk, dass es Dirigentinnen gibt, die die rahmenden Konzerte bestritten haben. Ein großes Erlebnis, dass es mittlerweile einen erheblichen Anteil an Musikerinnen gibt, die auf der Bühne stehen. Gut, dass es viele Musikwissenschaftlerinnen gibt, die sich der musikalischen Frauenforschung annehmen. – Aber man wird fragen müssen, wem eigentlich die Kunst, die Kultur und natürlich auch die Werke der Komponistinnen gehören. Man kann sich nicht des Gefühls erwehren, dass hier eine lebende Generation Frauen sich im Sinne des (juristisch sicher ein wenig anders verstandenen) Tatbestandes der „Geschäftsführung ohne Auftrag“ „schuldig“ macht. Die einfache Umkehrung alter Mißstände ist wohl kleingeistig und unwürdig – die Männer haben es so gemacht, uns vorgemacht, jetzt machen wir es eben auch so. Der unterschwellige Hass, der diese Struktur trägt, ist vielleicht verständlich aber wenig zielführend!
Noch immer schwer: Gemeinsamkeit
Wenn Eva Rieger in ihrem Vortrag am Rande moniert, dass „die Hauptsymposien der bevorstehenden Gesellschaft für Musikwissenschaft-Tagung“ in Saarbrücken fast ausschließlich mit männlichen Rednern bestückt“ ist, so ist dieses in der Tat eine „Ungeheuerlichkeit“ (Rieger)! Gleichzeitig muß man aber auch wahrnehmen, dass – nach einer optischen Pi-Mal-Daumen-Prüfungen (mit sicher großer Fehlertoleranz) – aktive Teilnehmer und Publikum in Tübingen zum allergrößten Teil Frauen waren.
Eine musikalische Zweiklassengesellschaft (Männer vs. Frauen) – diese Bemerkung sei einem alten, weißen Mann gestattet – ist längst überholt! Auf beiden Seiten würde man sich mehr „Ökumene“ (im ursprünglichen Sinne des Begriffes: oikumene – den ganzen [sic!] Erdkreis betreffend – und natürlich auch alle [sic!] Bewohner und Bewohnerinnen) wünschen. Die Zeilen eines ökumenischen Liedes mögen beiden Seiten (Männern wie Frauen) einen vorsichtigen „Wegvorschlag“ in eine gemeinsame große Kulturlandschaft geben: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht, wandle sie in Weite. Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt, wandle sie in Stärke. Mein verlornes Zutrauen, meine Ängstlichkeit, wandle sie in Wärme. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit, wandle sie in Heimat.“
Hinweis: In einer früheren Fassung lautete der Titel „Bärendienst an großen Lücken...“. Tatsächlich sollte das Festival aber als insgesamt positiver Beitrag zu einer unterrepräsentierten Thematik dargestellt werden. Entsprechend haben wir den Titel dahingehend angepasst.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!