„Schreiben wir es eben für uns, zu unserem eigenen Vergnügen!“ Richard Strauss hat seine letzte Oper wohl durchaus als Abschied von einem Genre begriffen, das in der Entstehungszeit kaum noch Relevanz besaß. Zur Münchner Uraufführung im Jahre 1942 dürfte „Capriccio“ mehr als weltfremd gewirkt haben. Vielleicht war es ja eine ganz bewusste Flucht aus der Welt, die damals von Deutschland aus bekriegt worden ist?
Während ringsum denunziert, gemordet und „gleichgeschaltet“ wurde, setzte Strauss gemeinsam mit Clemens Krauss ein Opus auf die Bühne, in dem es allen Ernstes um die Frage gehen sollte, ob in der Oper der Text oder die Musik bedeutsamer wären. - Andere Probleme gab es da nicht?
Regisseur Jens-Daniel Herzog, Intendant am Staatstheater Nürnberg, hat dieses Weltfluchtdrama nun in Dresden inszeniert, wo sein Amtsvorgänger derzeit Chef der Semperoper ist. Der aus der Schweiz stammende Peter Theiler ist nicht zu beneiden, er hatte sich gesellschaftliche Relevanz auf die Fahnen geschrieben, wollte die Bühnenkunst des Musiktheaters in die Gesellschaft hineinwirken lassen. Gut möglich, dass Straussens „Capriccio“ unter normalen Bedingungen diesen Anspruch im Kontext mit dem weiteren, nun aber auf nahezu Null gefahrenen Spielplan bedient hätte; in der aktuellen Situation sah Herzog jedoch das „Stück zur Stunde“ darin.
Weltflucht unter Pandemie-Bedingungen?
Geschickt verwob er in dieser Inszenierung Heute, Entstehungszeit und träumerische Traditionswelt miteinander, wobei ihm das Bühnenbild seines langjährigen Arbeitspartners Mathis Neidhardt visuell schlüssige Brücken entworfen hat. Die Eingangsszene spielt vor einer schier unüberwindlichen Wand aus grauem Beton, lediglich ein Fenster gestattet den Einblick in Traditionen ganz anderer Art. Dahinter ist die kunstsinnige Gräfin zu vermuten, an ihrer Wand prangt ein Abbild von Raffaels Sixtina. Ein hermetisches Früher, nie wieder erreichbar.
Drei ältere Herren, Greise muss man sie nennen, palavern vor dieser nicht einnehmbaren Festung über vermeintliche Grundfragen, siehe oben: Prima la musica e poi le parole, das alte Salieri-Drama, das heute fast niemand mehr kennt. Ist das denn noch relevant?
Straussens Spätwerk freilich ist nicht so platt, wie es von mancherlei früheren Inszenierungen suggeriert worden ist. Es mag der Versuch gewesen sein, sich irgendwie mit den Irrungen eines unentrinnbaren Umfelds arrangieren zu wollen. Doch es steckt auch jede Menge an Selbstreflexion darin, was nicht zuletzt die raffiniert eingesetzten musikalischen Zitate belegen.
Metaphorisch wird die Gräfin als zentrale „Capriccio“-Figur von Wort und Musik umgarnt, von einem Dichter namens Olivier und dem Komponisten Flamand; beide auch mit eindeutig erotisch bestimmten Avancen. Wem von den beiden soll, wem will, wem wird sie sich zuwenden? Hingeben gar? Ihre Zerrissenheit liegt auf der Hand: Weder Text noch Musik sind verzichtbar. Sie kann und mag sich nicht einseitig festlegen.
Da hat sich der graue Beton längst geöffnet zu einer durchschossenen Brandmauer, die auf einen Luftschutzraum hinweist und in ihrem Inneren braun getäfelte Nazi- Pracht suggeriert, hölzern und lebensfremd. Schicht um Schicht wird dieses Zwiebelmodell weiter gehäutet, bis das Theater im Theater dann an den spielerischen Kern vordringt. Ein Schäferstündchen im Rokoko - verzückend, berückend, verlogen.
Die Personage hat das Prinzip längst durchschaut, hier vertraut niemandem niemand. Diese Doppelbödigkeit ist auslegbar - und vom Inszenierungsteam offenbar so gewünscht. Denn unterschwellig steht längst die Frage nach den wahren Werten von Kunst und Kultur, zumal in einer von außen bedrohten Situation. „Wo sind die Werke, die zum Herzen des Volkes sprechen?“ fragt der Theaterdirektor La Roche, für den Jens-Daniel Herzog nach seinen Salzburger „Meistersingern“ einmal mehr Georg Zeppenfeld gewinnen konnte, der mit seinem schlanken Bass, nobler Artikulation und bezwingender Gestik in diesem Stück die Strippen zieht.
Staatskapelle + Strauss = orgiastischer Sound
Als ihm ebenbürtige Diva agiert Christa Mayer in der Partie der Aktrice Clairon in vokal und mimisch großer Klasse. Wie sie von Christoph Pohl, dem Bruder der Gräfin, umgarnt wird, ist großartig auf Ohr- und Augenhöhe. Daniel Behle stattet seinen Flamand mit schlankem Tenor aus und liefert sich mit Bariton Nikolay Borchev als Dichter Olivier köstliche Dispute. Und auch das „italienische“ Sängerpaar ist mit der reizenden Tuuli Takala und ihrem Partner Beomjin Kim so sehens- wie hörenswert.
Den Klangboden für diese „Capriccio“-Neuproduktion bereitet Strauss-erfahren die Sächsische Staatskapelle unter ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann. Da werden satter Sound mit Wucht und Raffinesse geboten, gibt es reichlich solistische Feinheiten und mitreißende Bögen in dieser Musik des Altmeisters zu entdecken. Bleibt nur zu wünschen, dass sich die musikalischen Leistungen auch online vermitteln lassen, denn bis zu einer Neuauflage auf der Bühne der Semperoper dürfte noch viel Zeit vergehen.
„Capriccio“ ab 22. Mai (15 Uhr) auf semperoper.de
Kostenfreier Stream bis vorerst zum 14. Juli 2021