Der Drucker Johannes Gensfleisch (~1400–1468) vom Hof zum Gutenberg in Mainz gilt als der bedeutendste Pionier des Buchdrucks. Er war es wohl, der auf die schlaue Idee des Einsatzes von beweglichen Metallbuchstaben kam. Er entwickelte eine effiziente Legierung aus Zinn, Blei und Antimon (einer ölhaltigen Tinte) für die Lettern, ein Handgießinstrument und die Druckerpresse. Sein Buchherstellungsverfahren modernisierte die herkömmlichen Methoden der Verbreitung von Texten sprunghaft. Sie war Voraussetzung für größere Auflagen und damit für eine grundsätzlich neue Qualität der Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten, der Wissenschaften und des Bildungswesens. Die rasche Ausbreitung des Flugblatt- und Buchdrucks in Europa ist ein Schlüsselfaktor der Renaissance in Europa.
Gutenberg war eine Zeit lang in Straßburg tätig. Das legte beim dortigen Theaterdirektor Marc Clémeur den Gedanken nahe, den nachhaltigen großen Namen für ein Musikprojekt zu nutzen. Das Staatstheater Mainz beteiligte sich (nach wenig positiven Erfahrungen mit früheren Auftragsopern zum großen Sohn der Stadt) nicht an „La Nuit de Gutenberg“. Im Rahmen des Festivals Musica präsentierte die Opéra du Rhin nun Philippe Manourys neues Bühnenwerk. Es thematisiert, ausgehend von der ahistorisch herbeibemühten Figur des legendenumwobenen Druckers, die zweite „Medienrevolution“ nach Einführung der Schrift im dritten vorchristlichen Jahrtausend. Jean-Pierre Milovanoffs lose Szenenfolge riß das große Thema grob auf – offensichtlich sollte es auch für unkonzentrierte Zuschauer eines Zeitalters des Zappens zugänglich gemacht werden. Manoury, der 2001 durch seine an der Opéra Bastille in Paris uraufgeführte Kafka-Oper „K …“ überregional bekannt wurde, fertigte daraus eine Kammeroper von 65 Minuten Dauer.
Ein alter Reim lautet: „Als Gutenberg den Druck erfand, der Herrgott ihm zu Rechten stand; jedoch, ohn’ allen Zweyfel, zur Linken stand der Teufel.“ Schon die Zeitgenossen scheinen mit ‚gesundem Volksempfinden’ erspürt zu haben, daß das Metier, als dessen Meister sich der Mainzer Erfinder erwies, nicht nur von Licht der Aufklärung illuminiert, sondern auch von Schwarzkunst geprägt war und mit „Mächten der Finsternis“ zu schaffen hatte. Yoshi Oidas Inszenierung von „Gutenbergs Nacht“ in Straßburg beginnt mit einem Tanz der Buchstaben in der Dunkelheit – wie beim aufmerksamen Löffeln einer Buchstabensuppe wurden da Lettern sortiert und zu Kombinationen gefügt. Es folgt eine Rückblende: Vier ältere Herren, ein „Quartett der Schreiber“ (dem Design der Bärte nach mutmaßlich Sumerer), führten die Vorzüge der Schriftaufzeichnung auf Tontafeln vor Augen und Ohren. Ihre Schriftträger erweisen sich als zerbrechliches Gut.
Indem der bärtige Gutenberg in Gestalt des Bassisten Nicolas Cavallier auf den Plan tritt und, gestützt auf eine geschäftig grummelnde Tätigkeit der Instrumentalisten im Graben, von seinen Bemühungen um Innovationen in der Drucktechnik berichtet, navigiert Milovanoffs und Manourys Häppchenkunst in ideologisches Fahrwasser: seine Bemühungen seien, so singt der Held selbst, um der „Verbreitung der Wahrheit“ willen erfolgt. Zur Erinnerung: Diese Erfindungen sollten und konnten von Anfang an, da eben nicht nur Gott der Allmächtige zur Rechten, sondern auch sein Gegenspieler Mephistopheles zur Linken stand, mehreren und mehrdeutigen Zwecken dienen – der Verbreitung des Lesens, des Wissens, der Erkenntnis (und das bedeutet ggf. auch: die Multiplikation kann oder muß dem Widerspruch dienen und ggf. sogar ausdrücklich dem als „Böse“ Geächteten), der Desinformation, Manipulation und Lüge ohnedies. Vielleicht taugten Gutenbergs Errungenschaften schlicht und einfach der ‚Verbreitung (wir wissen von den Motivationen des talentierten Technikers buchstäblich nichts). Bekannt aber ist, wie viel Aufmerksamkeit und Zeit dieser auf den Druck einer lateinischen Bibel verwandte – auf jenes Buch, auf das es damals vor allem ankam. Milovanoffs Text spart den Namen des Buchs der Bücher und Hauptwerk Gutenbergs aus, als könne dadurch so etwas wie interreligiöse correctness erzeugt werden.
Bis die neue, um 1450 entwickelte Technik einsatzfähig war, dauerte es geraume Zeit. In ihr war zunächst keine Rendite zu erzielen. Das machte die Gläubiger so nervös, daß sie Gensfleisch das Vertrauen und das Kapital entzogen. Die neue Straßburger Kammeroper widmet dem Prozess, den der Geldgeber Fust aus Frust anstrengte, ebenso kurze Szenen wie der Hostess, die Vorzüge der freizügigen modernen Lebenswelt und Informationsflüsse preist, später auch die notwendigen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen rechtfertigt. Mélanie Boisvert tut dies, als wäre sie eine Parodie einer Königin der Nacht, mit schriller hoher Stimme.
Polyglott wird Weltliteratur aus verschiedenen Ländern aufgerufen und es erscheint die aus der Barockoper entlehnte Folia. Mit warmer Stimme zitiert diese freundlich-feminine „Narretei“, die Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux, ein Gedicht von Mallarmé und tröstet den Erfinder, der inzwischen offensichtlich obdachlos wurde. Gestützt auf elektronische Einspielung wurden dann zur weiterassoziierenden Musikspur eine brennende Barock-Bibliothek gezeigt (vielleicht Anna Amalia in Weimar), die Scheiterhaufen der Nazis für unliebsame Bücher und das Anzünden einer Salman Rushdie-Puppe durch fanatisierte Muslime in London; gefolgt von einer Kriegsbilder-Orgie, die heute bald jedes Kind mit seinem Joystick in Gang setzen kann. Dahin also hat es, so wird mit erhobenem Zeigefinger angemahnt, Gutenbergs Welt gebracht – dorthin ist es mit dem auf „Wahrheit“ gerichteten Geist der Aufklärung gekommen! Wohl weil das Thema so überbordend groß erschien, führte es zu einer ausgesprochen kurz(weilig)en, kleingliedrigen, feinmaschigen, mitunter nachgerade kurzatmigen Lösung.
Daniel Klajner dirigierte den Soundtrack zu Gutenbergs postmoderner Bilderwelt, der zusätzlich von Ircam-Technikern elektronisch bestückt wurde: Unter der weithin sangbaren Lineatur der Singstimmen und einem an der Oberfläche dominierenden Konversations-Ton, scharrt und rappelt es pittoresk in der instrumentalen Tiefe. Indem schließlich noch ein Kinderchor als Hoffnungsträger für den Fortschritt und die Bewahrung des guten alten Buchs aufgeboten wurde, ist das Maß der guten Absichten voll – Gutenberg darf im Schneetreiben auf einer Parkbank entschlafen. Das Adagietto verhaucht. Der Fortgang der Häppchenkunst fand am kalten Buffet statt – auch abwechslungsreich und in Kombination mit dem Riesling recht anregend.