Das hat sich die Sächsische Staatsoper Dresden selbst eingebrockt: Kaum macht sie ernst mit ihrer einjährigen Hans-Werner-Henze-Hommage und startet die Spielzeit mit dessen Oper „Wir erreichen den Fluss“, da erheben sich auch schon erste Besucher und fliehen zurück ins heile Hotel. Wer länger ausgehalten hat, sah sich mit einem kraftvollen Zeitstück konfrontiert.
An der Semperoper in Dresden werden in dieser Spielzeit drei Namen gehuldigt. Richard Wagner, einst Hofkapellmeister am Haus, wird zum bevorstehenden Geburtstag geehrt. Christian Thielemann, neuer Chefdirigent der Staatskapelle, erhält Vorschusslorbeer als zünftiger Nachlassverwalter von Wagner und sowieso zum Amtsantritt in seiner ersten Saison. Zwischen den beiden Dirigenten aus den Jahrgängen 1813 und 1959 ist der 1926 geborene Komponist Hans Werner Henze als diesjähriger Capell-Compositeur angesiedelt. Wie derzeit wohl nirgendwo sonst, soll in Dresden ein klangvolles Henze-Jahr bevorstehen.
Den Anfang hat die Aufführung seiner 1976 am Londoner Covent Garden in eigener Regie uraufgeführten Oper „We come to the River / Wir erreichen den Fluss“ gemacht. Eine enorme Herausforderung für die Semperoper, die das Werk leider nur für fünf Aufführungen angesetzt hat. Es sprengt allerdings auch beinahe sämtliche Kapazitäten des Hauses.
Hans Werner Henze hat diese „Handlungen für Musik“ von Edward Bond als ein Bekenntnis gegen jeglichen Krieg angelegt. In Dresden wurden sie von der 1977 geborenen Regisseurin Elisabeth Stöppler inszeniert, die hier 2010 bereits Henzes „Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ herausgebracht hatte. Die jetzige Dresdner Erstaufführung ist der im Sommer mit nur 54 Jahren verstorbenen Intendantin Ulrike Hessler gewidmet worden. Deren bleibendes Verdienst ist es, die Semperoper wieder weg von der puren Kulinarik eines schöngeistigen Touristenziels hin zu inhaltsvollem Musiktheater zu positionieren. Wie schwer es ist, diesen Weg zurück nach vorn einzuschlagen, zeigen die konsternierten Premierenflüchter, siehe oben.
Natürlich ist „Wir erreichen den Fluss“ sehr anspruchsvolle Kost, keine Frage. Die Klangteppiche kommen aus dem Graben, werden auf verschiedenen Ebenen von der Bühne gewebt und sogar in der Mittelloge hoch überm Parkett. Das ist von einem breiten Laufsteg geteilt, der sich – unter anderem – als titelgebender Fluss erweisen wird. Deswegen und weil die Bühne weit in den Zuschauerbereich hineinragt, ist die Platzkapazität stark eingeschränkt. Spätestens nach der Pause sind aber zahlreiche Plätze frei. Was gar nicht Not täte, wenn man sich auf das mitunter sehr postulierende Theater von Bond und Henze einlassen würde.
Da wird ein Aufstand niedergeschlagen, ein General vermeldet den Sieg – und gleichzeitig ist klar, einen Sieg gibt es gar nicht, nur die Vorbereitungszeit für den nächsten Krieg. Da wollen aber nicht mehr alle Soldaten mitmachen, ein Deserteur wird verurteilt und hingerichtet. Frauen und Kinder suchen nach Männern und Vätern im Feld. Auch sie werden gemeuchelt – als Leichenfledderer. Der General befiehlt all diese Untaten, wird offiziell dafür gewürdigt, kann sich aber längst nicht mehr in die Augen sehen. Denn er hat erfahren, dass er erblinden wird. Plötzlich hat er ein Verständnis für Leid und für Leiden. Aufhalten aber kann er weder das eine noch das andere.
Man steckt ihn in ein Irrenhaus, wo von einer Insel des Friedens geträumt werden kann. Außerhalb dieser unwirklichen „Oase“ herrscht weiterhin das kaiserliche Schreckensregime. Der General soll dagegen aufbegehren, verweigert sich aber den Aufwieglern und will auch nicht in die Dienste des Kaisers zurückkehren. Dessen Drahtzieher fürchten das Aufbegehren des Volkes, ihre Gewalt wird immer rücksichtsloser. Auch der Kaiser fühlt sich in die Enge getrieben und lässt den General blenden. Dem erscheinen daraufhin die Opfer seiner Verbrechen, er wird an sich selbst irre und so als Gefahr in einer längst irrationalen Welt gesehen – und folglich ermordet. Am Ende stehen wir wieder am Fluss. Wir alle.
Ein Sprichwort sagt, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Doch die Menschheit macht immer wieder dieselben Fehler. Statt alle Generäle in Irrenhäuser zu stecken, wo sie wahrscheinlich besser aufgehoben wären als an den Schaltzentralen des Schreckens, im Kasernendrill von Kriegs- und von Kriechdienst, werden ihnen immer wieder die unschuldigen Männer und Söhne ausgeliefert, von denen etliche, kaum dass sie fesch Uniform tragen, zu Gewaltwesen mutieren.
So werden sie auf der Bühne der Semperoper auch vorgeführt, als rauchende, dumme Jungs, die stinkend und schmierig sind, zu allem bereit. Dieses Aufeinanderprallen von Oper und militärischen Mob macht „Wir erreichen den Fluss“ so beklemmend. Es ist für aufgeklärte Menschen immer widerlich, uniformierte Militärmaschinen zu sehen. Ob nun in den alltäglichen Nachrichten real oder auf der Opernbühne fiktiv. Hier wurde ganz brachial politisches Theater gestaltet, das Binsenweisheiten von gut und böse gewiss nicht neu erfunden, sie aber bildgewaltig und mit enormem Personalaufwand umgesetzt hat.
Es ist vor allem eine Stärke der in ihrer Drastik ehrlich erschütternden Musik von Hans Werner Henze, die solche billigen Botschaften abfedert und sie beispielsweise in einem sarkastischen Spielmannszug mit viel Tschingderassabum wieder auffängt. Eindrucksvoll viel Schlagwerk ist eingesetzt, das auch mal von Streichern und Bläsern bedient werden muss. Die Staatskapelle unter Gastdirigent Erik Nielsen hat sich sehr engagiert und aufgrund des speziellen Aufbaus unter erschwerten Bedingungen diesem herausfordernden Bekenntniswerk gestellt.
Die Regisseurin sowie ihre Bühnenbildnerinnen Rebecca Ringst und Annett Hunger haben für die Henze-Oper, wo es gar nicht anders ging, wahre Holzhammer-Methoden eingesetzt, die freilich mit sehr opernhaften und in einigen Szenen sogar in einer abgehobenen, an Federico Fellini erinnernden Bildsprache aufgebrochen worden sind. Da tummeln sich die Krieger inmitten von Vogelgezwitscher antikisierend in altrömischer Gewandung, während Kostümbildner Frank Lichtenberg ansonsten doch recht martialische Uniformen der Jetztzeit eingesetzt hat. Als bizarres Stilmittel werden Männer in Frauenkleider gesteckt, was einfach nur lächerlich aussieht – und zugleich unterstreicht, wie jämmerlich hirnlos Menschen in Militärklamotten wirken. Überall auf der Welt.
Was die Komparserie der Semperoper, drei Dresdner Kapellknaben sowie all die Mitglieder des Jungen Ensembles und die zahlreichen Solisten für diese Produktion geleistet haben, ist enorm. Viele Sängerinnen und Sänger waren herausragend und müssten erwähnt werden. Stellvertretend seien Simon Neal als enorm stimmkräftiger und spielerisch wandlungsfähiger General, Iris Vermillion als Alte Frau mit ihrer vokalen und körperlichen Präsenz sowie die sanft Nuancen setzende Anke Vondung als feinsinnig philosophischer, doch letztlich grausamer Kaiser genannt. Zu Recht wurde das gesamte Ensemble zur Premiere heftig gefeiert, auch für das Inszenierungsteam gab es ausschließlich zustimmenden Applaus. Dem Altmeister der deutschen Nachkriegsmoderne aber, Hans Werner Henze, der seiner Oper vom Rang aus beiwohnte, wurde vom Publikum wie von den Protagonisten so lauthals wie respektvoll gehuldigt.
Termine: 20., 25., 26., 29.9.2012