Dass mit dem Alter die Weisheit wächst, hört man oft und gern. Was Dieter Schnebel betrifft, lässt sich sagen, dass es bei ihm vor allem die Lust an der ironischen Verfremdung ist, die seinem Altersstil Flügel verleiht. Waren in der Vergangenheit die lkonen der rebellischen Jugend an der Reihe: die Harley-Davidson, der Flipper-Spielautomat, so hat er jetzt, als Auftrag des Klavier-Festival Ruhr und dessen Liszt-Schwerpunkt, eine „h-moll-Sonate“ komponiert.
Oder doch nur so getan als ob? Auch dafür nämlich spräche manches: die Einsätzigkeit, über die schon Berg nicht hinausgekommen ist. Und, nicht zu übersehen, die An- und Abführungszeichen im Werktitel. Gewissermaßen ein Augenzwinkern am Anfang, eines am Ende, dazwischen ein Herbeizitieren von Material eigener wie fremder Provenienz. Letzteres eher auf dem Klavier dargeboten, die Reminiszenzen an den Dieter Schnebel der Körper-Sprache, der Laut-Gesten-Laute, der visible music hingegen vorzugsweise im respektive über dem Klavier.
Etwa, wenn Siegfried Mauser mit der Linken in den Konzertflügel greift, ein heftiges Schrappen der Basssaiten hervorruft, den entstehenden Geräuschklang ausschwingen lässt, freigibt zum Nachhören, während er dazu mit der Rechten einen Vierer schlägt – wie ein Dirigent vor einem Orchester, der ein Klangereignis formt und – auch das macht Mauser – abschlägt. Keine Zutat des Interpreten. So steht es in der Partitur. Ein Verfahren, das für diese 20-Minuten-Montage in gewisser Weise formbildend ist. Manchmal gehen virtuose Passagen voraus. Solche, die Material der großen Vorbilder (Chopin, Liszt, Hammerklaviersonate) aufgreifen und verfremdend weitertreiben. Bis dann dieses Drehen und Kreisen abbricht, wiederum gefolgt von parataktischen Geräuschpassagen. Gelegenheiten für den Zuhörer, seine Repertoirekenntnisse zu testen und/oder sich im Nachhören, Nachsinnen einzulassen auf die melancholische Stimmung dieses Blicks über die Schultern zurück auf ein wunderbares, wenn auch vorvoriges Jahrhundert.
Dass da Wehmut im Spiel ist, möchte Schnebel nicht ausschließen. Als „Reverenzwerk“ hatte er sich zuvor von Mauser Schuberts große a-Moll-Sonate ausbedungen, dem dieser (als eigentlicher Stichwortgeber für das neue Werk) bereitwillig gefolgt war – mit den gewohnten luziden Werkerläuterungen vorab. Andererseits ist Mausers rhetorische Begabung mittlerweile subkutan in seinen Klaviervortrag eingedrungen, um, nebenbei, ein ganzes Arsenal grimassierend-gymnastischen Beiwerks hervorzurufen. Konnte man zu dem Wippenden, dem Jetzt-kommt-es-Vorausblickenden immerhin noch die Augen zumachen, so blieb sein Spiel in den lyrischen Stellen überpedalisiert, in den Forte-Passagen herausgehämmert. So hatten es weiland die Kumpels in der Gelsenkirchener Zeche Nordstern untertage mit der Kohle gemacht. Das ,,Symphonische“, von dem Mauser so erhellend gesprochen hatte, verwandelte sich kraft der zupackenden Art wie er seinen Steinway D traktierte zu einem Dröhnen. Mitverantwortlich dafür auch die Überakustik eines nach oben offenen, aus Glas und Stahl gefertigten Atrium, das für Disco-, Maschinenmusiken oder dergleichen zuträglich sein mag, für Schubert gewöhnungsbedürftig bleibt.
Gleichwohl war es das von Mauser diagnostizierte „Symphonische“, das es dem Komponisten angetan hatte. Und ferner, mitauslösend für das neue Werk, ein Stück selbstverordnete Wiedergutmachung für das, was eine zeigefingerhebende Avantgarde ihm einst versagt habe. Mit verschmitztem Blick gestand Schnebel im Gespräch mit seinem Uraufführungs-Pianisten, dass er bei dieser jüngsten Arbeit auf ein Konzept aus den Siebzigern, auf eine geplante Werkreihe „Tradition“ zurückgegriffen habe. Jetzt, nachdem (endlich! sagen die einen – leider! die anderen) „alles geht“, ging auch das. Ab sofort ziert eine „h-moll-Sonate“ das Werkverzeichnis dieses bei allem ironischem Tief- und Hintersinn trotzig hoffenden Komponisten. Letzteres, die Hoffnung, namentlich die auf Erneuerung der Konzertliteratur, hegt er immer noch, sagte er. lmmerhin sei er ja auch Theologe.
Das Klavier-Festival Ruhr läuft noch bis 22. Juli