Das 1901 in Berlin gegründete musikalisch-literarische Kabarett „Überbrettl“ von Ernst von Wolzogen, dem Halbbruder des Bayreuther Gralshüters und Herausgebers der Bayreuther Blätter, Hans von Wolzogen, brachte als eine seiner künstlerischen Innovationen farbige Schattenspiele mit Live-Gesang. Daran erinnern einhundertzehn Jahre später Schattenaktionen der Wälsungen hinter sich magisch öffnenden Schiebewänden in Hundings Hütte. In der „Walküre“-Inszenierung des belgischen bildenden Künstlers Guy Cassiers, für die Regie und zur Hälfte (mit Enrico Bagnoli) für das Bühnenbild verantwortlich, ist darauf u. a. als farbiges Lichtspiel ein offener Kamin á la „Schöner Wohnen“ zu bestaunen.
Da der Regisseur – wie schon im „Rheingold“ – weitgehend auf Requisiten verzichtet, zaubert Sieglinde für das ihr von ihrem Gatten aufgetragene Mahl eine quadratisch leuchtende Tischdecke auf den Boden.
Hatte Patrice Chéreau im Bayreuther „Ring“ von 1976 für Wotans große Szene im zweiten Aufzug ein Foucaultsches Pendel eingeführt, so ist es hier eine stehende, mit Laservideos bestrahlte Kugel, auf der „Fragmente von Wotans Erinnerung“ (Cassiers) projiziert werden: zunächst inhaltlich kaum erkennbare, vorbeifliegende Fotos, dann das Gesicht des Göttervaters selbst. Im Hintergrund – geradezu eine Hommage an den unseligen Bayreuther „Ring“ von Tankred Dorst – erhebt sich in dieser Szene eine Kopie des Marmorreliefs von Jef Lambeaux’ Menschlichen Leidenschaften, das aber Wotan bei seinem Abgang nachfolgt. Dann senken sich aus dem Schnürboden Speere herab, auf die ein veritables Waldweben projiziert wird, bei der Todverkündung ersetzt durch schwarzweiße Videostrukturen.
Im dritten Aufzug hängen anstelle der Speere, die dann auch dieses Bild abschließen werden, rote Plastikschnüre über einer kubistisch strukturierten Landschaft. Live-Projektionen eines vervielfachten, schwebend agierenden Tänzerpaars symbolisieren offenbar die auf ihren Transport nach Walhall wartenden Krieger. Die eingeschläferte Brünnhilde wird auf einem Podest hochgefahren und von gut zwei Dutzend Infrarotlampen warmgehalten, die als Verfremdungseffekt auf und um sie herabtropfen. Mit seiner Vorliebe für lange Schleppen erweisen sich die Kostüme von Tim van Steenbergen im Spiel als wenig vorteilhaft. Und der hochgewachsene Sängerdarsteller des Wotan wirkt wie ein Waldschrat.
Dem gegenüber ist die musikalische Seite der zweiten Premiere des neuen „Ring“-Zyklus der Staatsoper weit befriedigender und runder geglückt. Im Schillertheater gibt es ein halbwegs verdecktes Orchester, da im vorne erweiterten Graben die Violinen, wie auch der Dirigent, fürs Publikum unsichtbar sind. Auf diese Weise erlangen die tieferen Instrumente akustisch deutlich an Gewichtung. Barenboim entlockt der Staatskapelle beim Zauber der Lenznacht faszinierende Piani. Er verblüfft außerdem mit Temporückungen, etwa mit dem auf die Hälfte reduzierten Tempo bei Sieglindes „Haltet ein, ihr Männer“, und gibt im Schlussakt viel Zeit zu melodisch breitem Ausmusizieren.
Iréne Theorin gestaltet die Titelpartie stimmlich rundum einwandfrei und szenisch heldenhaft und gleichzeitig nachvollziehbar menschlich: sichtbar wird auch ihre Verliebtheit in den Halbbruder Siegmund; Wotans Wort, „du folgtest willig der Liebe Macht“, wird hier auch in der Handlung signifikant.
Die als Sieglinde souveräne Anja Kampe setzt auch ihren hörbaren Atem als dramatisches Mittel ein. Der neuseeländische Tenor Simon O’Neill stemmt einen kraftvollen Siegmund, der in der Deutung des Dramaturgen Michael P. Steinberg – unter Berufung auf Wagners Vita, aber auch auf jene von Thomas Mann und auf dessen Erzählung „Wälsungenblut“ – als „Verkörperung einer komplizierten und ambivalenten jüdischen Phantasie“ gedeutet wird; aber davon ist in der zumeist arg beliebigen Personenführung nichts zu bemerken, es sei denn ein ungewohntes Detail: Siegmund schneidet sich nach der Todverkündung mit dem Schwert die Pulsader auf und färbt mit seinem Blut die Schläfe der schlafenden Sieglinde.
Bejubelt wurde René Papes Debüt als Wotan, – nicht ganz zu Recht: häufig nimmt der Bassist die Töne in der hohen Baritonlage zu tief. Zumeist obsiegt zwar der außerordentlich wohltönende, belcantistische Schöngesang Papes, aber die Spitzentöne der Partie verlegt der Bassist gern in die Kopfstimme, – auch dann, wenn das Piano im Sinne der dramatischen Gestaltung nicht angebracht ist. Am Ende des zweiten Aufzuges erweitert Pape die Partie um ein zusätzliches, drittes „Geh!“, welches er Hunding vor seinem verbalen Todesstoß zuhaucht.
Viel Zuspruch erhielten der sehr deutlich artikulierende, russische Bassist Mikhail Petrenko als Hunding , wie auch dessen Schutzgöttin, die dramatische, russische Altistin Ekaterina Gubanova als Fricka.
Das Walkürenensemble enthält namhafte internationale Solisten, ist aber doch recht inhomogen; nahezu unhörbar sind die vor ihrem Auftritt aus dem Off erschallenden Stimmen von Rossweiße und Grimgerde, da auf das vom Komponisten vorgeschlagene Sprachrohr verzichtet wurde. Hingegen werden die von Wagner vorgeschriebenen drei Schläge Wotans mit seinem Speer auf den Felsboden erstmals vom Schlagwerk, als Bühnenmusik, akustisch realisiert.
Die Koproduktion mit der Scala war im Dezember vergangenen Jahres bereits in Milano zu erleben. Zur Berliner Premiere, die mit dreiviertelstündigen Pausen annähernd Bayreuth-Länge erreichte, waren alle Verantwortlichen zugegen. Zwei Buhrufe, die störend in die Stille nach dem Schlussakkord gellten, fanden beim chaotisch uninszenierten Schlussapplaus, sobald das Regieteam auf die Bühne kam, ihre Fortsetzung.
Weitere Aufführungen: 17., 22., 25. April 2011