Nicht nur in Wirtschaft, Technik und Sport ist China derzeit allgegenwärtig. In der Konzert- und Kammermusik sorgen Inspirationen aus dem Reich der Mitte zunehmend für faszinierende Bereicherungen des Klangerlebnisses.
China im Konzertsaal
Tan Dun, Jahrgang 1957, gehört heute zu den meistgespielten lebenden Komponisten weltweit. In Hunan (China) geboren, entdeckte er schon als Kind sein Talent für die Musik. Doch die maoistische „Kulturrevolution“ (1966-1976), die alle „westliche“ Kultur durch bodenständige bäuerliche Praxis ersetzen wollte, stoppte seine musikalische Ausbildung und zwang ihn, im Reisanbau zu arbeiten. Auf dem Land lernte er damals traditionelle, bäuerliche Musik und ihre Instrumente kennen. Tan Dun begann, die Lieder des Dorfes Si Mao zu notieren und mit den Bauern kleine Aufführungen einzuüben. Als eines Tages bei einem traditionellen chinesischen Opern-Ensemble („Peking-Oper“) Not am Mann war, erhielt er dort auch eine Stelle als Geiger. Aber erst nach dem Ende der „Kulturrevolution“ durfte er am wiederbelebten Konservatorium in Beijing studieren (1977) und dann auch zum Aufbaustudium ins Ausland gehen. 1986 kam er nach New York, wo er heute noch lebt. „China und das Dorf Si Mao gaben mir mein Leben, aber New York ist mein Zuhause. Durch diese Stadt habe ich verstanden, wo ich herkomme.“
In Tan Duns Musik verbinden sich die westliche Konzertmusik und die reiche Tradition Chinas. Sein erster großer Erfolg war die Oper „Marco Polo“ (1996) – hier trifft die europäische Opernform auf Formenelemente der Peking-Oper, das klassische Sinfonieorchester auf arabische, indische, chinesische Solo-Instrumente. Auf der Basis von „Marco Polo“ entstand das „Concerto for Orchestra“ (2012), dessen Ersteinspielung Tan Dun selbst dirigiert hat. Viel Beachtung fand auch seine (in den USA oscarprämierte) Musik zum Film „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ (2000) des taiwanesischen Regisseurs Ang Lee. In vielen europäischen Konzerthäusern hörte man „The Tears Of Nature“ (2012), Tan Duns Perkussions-Konzert für den Solisten Martin Grubinger, bei dem auch chinesische Becken und Gongs, Bambusröhren oder Klangschalen zum Einsatz kommen und Anspielungen auf chinesische Ritual- und Opern-Praktiken erkennbar sind. Ebenfalls von der Peking-Oper angeregt ist das Kammerwerk „Ghost Opera“ (1994) für die Pipa-Virtuosin Wu Man und das amerikanische Kronos Quartet. Tan Dun hat dieses Werk dann weiterentwickelt zu einem Pipa-Konzert und danach zu einem Zheng-Konzert.
Die ausgebremste Generation
Ähnlich wie Tan Dun konnten viele chinesische Komponisten seiner Generation ihre Laufbahn nur mit Verspätung beginnen – wegen Mao Zedong. Zum Beispiel Qigang Chen (geb. 1951 in Shanghai), der bereits das Konservatorium besuchte, als die „Kulturrevolution“ losging. Daraufhin musste er das Studium abbrechen und wurde dann sogar für drei Jahre in ein Umerziehungslager gesteckt. Erst nach Maos Tod konnte er in Beijing das Kompositionsstudium aufnehmen. 1984 ging er zum Aufbaustudium nach Paris und war dort der letzte Student von Olivier Messiaen.
Zhou Long (geb. 1953 in Beijing) musste in der „Kulturrevolution“ das Klavierspiel aufgeben und später als Traktorfahrer in der Landwirtschaft arbeiten. 1977 endlich wurde er als Kompositionsstudent in Beijing akzeptiert. Zur Vollendung seiner Studien ging er 1983 in die USA und gründete dort das Ensemble „Music From China“. Er war Composer-in-Residence bei mehreren US-Orchestern und erhielt für seine Oper „Madame White Snake“ den Pulitzer-Preis (2011).
Chen Yi (geb. 1953 in Guangzhou) musste während der „Kulturrevolution“ in einem Arbeitslager auf dem Land leben. Sie durfte dort auf ihrer Violine nur noch Revolutionslieder spielen, wurde aber mit 17 Jahren Konzertmeisterin an der Peking-Oper in Beijing. Nach Maos Tod wurde sie am Konservatorium in Beijing zugelassen und war die erste Frau, die dort einen Abschluss in Komposition machte. Danach ging sie zum Aufbaustudium nach New York und war Professorin an mehreren US-Universitäten.
Bright Sheng (geb. 1955 in Shanghai) wollte eigentlich gar nicht Musiker werden, besaß aber so viel musikalische Vorbildung, dass ihn die Maoisten tatsächlich zum Erlernen der ländlichen Musikfolklore in die Provinz Qinghai schickten – für sieben lange Jahre. Danach studierte er am Konservatorium in Shanghai und ging dann zur Fortbildung in die USA. Aus den musikalischen Erfahrungen in der Provinz Qinghai schöpft er noch heute: „Ich bin zu 100 Prozent chinesisch und zu 100 Prozent amerikanisch.“
Auch Xiaogang Ye (geb. 1955 in Shanghai) konnte erst 1978 ein Musikstudium aufnehmen. 1987 ging er zur Fortsetzung seines Studiums in die USA, kehrte dann aber als Professor ans Konservatorium in Beijing zurück. Sein Kammerstück „Datura“ (2006) wurde in Chicago uraufgeführt, sein Klavierkonzert „Starry Sky“ (2008) in Beijing (bei den Olympischen Spielen). Mehrere europäische Orchester haben Werke von ihm für Tonträger eingespielt.
Eine ergänzende Klangwelt
Diese (und viele andere) Komponisten, die zwischen China und dem Westen „pendeln“, bringen seit Jahren chinesische Klangelemente in die westliche Orchester- und Kammermusik. Das beginnt schon bei der Einbeziehung der kunstvollen traditionellen Musikinstrumente Chinas und ihrer interessanten Klangfarben. Vor allem die gezupfte viersaitige Laute (Pipa) und die 21-saitige Zither (Zheng) haben sich im Zusammenspiel mit westlichen Orchestern bewährt. Auch die gestrichenen zweisaitigen Spießlauten (Huqin) kommen häufiger zum Einsatz, etwa Erhu, Jinghu und Gaohu. Gelegentlich hört man auch die kleinere Zither (Qin, Guqin), die gezupfte dreisaitige Laute (Sanxian) oder das chinesische Hackbrett (Yangqin). Bei den Blasinstrumenten sind es vor allem die Längsflöte aus Bambus (Xiao), die Doppelblatt-Schalmei (Guan), die große Mundorgel (Sheng), die kleine Mundorgel (Hulusi), die chinesische Querflöte (Di, Dizi) oder die Gefäßflöte (Xun). Auch spezielle chinesische Gongs (Luo) und die tiefen Trommeln (Taigu) werden in die Kammer- und Orchestermusik eingebunden. Der Komponist Bright Sheng schrieb sinfonische Werke auch für ein komplett chinesisch besetztes Orchester.
Zu den speziellen Klangfarben kommen noch die Anklänge an die chinesische Melodik (meist pentatonisch und großintervallig) und an die besonderen traditionellen Spieltechniken, die bei den chinesischen Instrumenten üblich sind. Auffällig sind die starken Glissando- und Slide-Effekte bei den Saiteninstrumenten sowie die verschiedenen Anschlagsarten. Auch gibt es in China eine Kultur der nur angedeuteten, quasi „kalligrafischen“ Töne – dazu gehören Nebentöne, Begleitgeräusche, Hauchtöne, Obertoneffekte. Interessanterweise entstehen da viele Berührungspunkte mit Intonations-Neuerungen, wie sie in der westlichen zeitgenössischen Musik entwickelt wurden. Man kann diese „Chinaismen“ daher auch als eine besondere Spielart avantgardistischer Tonerzeugung verstehen. In manchen Fällen ist auch durchaus unklar, ob ungewohnte Intonationstechniken in neuen Werken sich nun chinesischer Tradition oder eher neutönerischem Experiment verdanken – zumal dann, wenn die Komponisten Spielweisen und Timbres, die sie aus China kennen, auf westliche Instrumente übertragen. Vor allem die Violine und die Konzertflöte werden gerne eingesetzt, um „chinesische“ Klangeffekte nachzuahmen. Auch das Klavier eignet sich für „Chinaismen“, indem es Gongs, Glocken, Trommeln oder Windgeräusche imitiert.
Viel Fantasie zeigen die chinesischstämmigen Komponisten im Umgang mit der westlichen Perkussion, speziell dem Marimbaphon, wodurch ihre Musik häufig eine eigene „Klangschicht“ perkussiver Art entwickelt. Es gibt sogar Experimente mit sogenannter Wasser-Perkussion oder Papier-, Stein- und Keramik-Perkussion. Hierbei spielt die Lehre traditioneller chinesischer Philosophie eine Rolle, die fünf Elemente unterscheidet: Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall. (Auch die Musikinstrumente wurden in China traditionell nach dem Baumaterial kategorisiert.) Auffällig ist ein frischer, ungehemmter Zugang zum Trommelrhythmus, wie ihn die westliche Neue Musik sonst kaum mehr kennt. Relativ häufig liest man dann Vergleiche mit Strawinskys heftigen „Sacre“-Rhythmen. Der Rückgriff auf traditionelle chinesische Rituale, schamanistische Zeremonien, chinesische Sagenstoffe oder Abläufe der Peking-Oper eröffnet zudem ungewohnte und belebende Formkonzepte für die Musik.
China ist überall
Die Verbreitung von „Chinaismen“ in der westlichen Musik hat sich durch die kulturelle Öffnung Chinas in den letzten Jahren erheblich beschleunigt. Immer mehr junge Komponisten/-innen, Solisten/-innen und Dirigenten/-innen aus China (aber auch aus Taiwan) praktizieren heute in Europa, Nordamerika und Australien. Das erleichtert und fördert die Aufführung chinesisch inspirierter Werke und regt auch westliche Komponisten und Komponistinnen an, sich am Einsatz von „Chinaismen“ zu versuchen. Die Pipa-Virtuosin Wu Man (geb. 1963 in Hangzhou) zum Beispiel trat 1985 erstmals im Westen auf. Sie spielt nicht nur traditionelle chinesische Musik, sondern arbeitete auch mit dem Kronos Quartet, dem Silk Road Project, dem Komponisten Philip Glass, Bang On A Can, Henry Threadgill und vielen anderen zusammen. Für Wu Man entstanden die Pipa-Konzerte von Tan Dun, Xiaogang Ye, Zhao Jiping und dem Amerikaner Lou Harrison. Ähnlich inspirierende Beispiele sind die Zheng-Solistin Xu Fengxia (geb. 1963 in Shanghai) oder der Sheng-Virtuose Wu Wei (geb. 1970 in Gaoyou), die beide in Deutschland leben.
Das Klassiklabel Naxos residiert in Hongkong und hat viel dafür getan, die Musik chinesischstämmiger Komponisten bekannt zu machen. Selbst die chinesische Sprache ist in konzertanten Vokalwerken heute auf der ganzen Welt immer häufiger zu hören. So hat Xiaogang Ye als Antwort auf Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ sein Werk „Song Of The Earth“ (2004) komponiert – mit denselben Textvorlagen wie Mahler, aber im chinesischen Original. Die Ersteinspielung – zusammen mit einer Neueinspielung von Mahlers Werk – entstand mit dem Shanghai Symphony Orchestra unter Long Yu (erschienen auf Deutsche Grammophon). Aufgeführt wurde „Song Of the Earth“ (außerhalb Chinas) bereits in Berlin, München, Saarbrücken, Bamberg, Warschau, Lódz, Venedig, Rom, Luzern und New York.
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