Lieben Sie Frédéric Chopin? Kennen Sie Giacomo Orefice? Wer jetzt zweifach bejaht, hat a) guten Geschmack und darf sich b) einer musikalischen Ausnahmebildung rühmen. Das virtuos-pianistische und vor allem stets überbordend emotionsgeladene Werk des 1810 in Zelazowa Wola unweit von Warschau geborenen Komponisten und Interpreten Frédéric Chopin ist hinlänglich bekannt und wird in diesem Jahr anlässlich des 200. Geburtstages weltweit besonders gepflegt.
Dass dem als bedeutendster polnischer Komponist gerühmten Frühvollendeten – er starb bereits im Herbst 1849 in Paris – derzeit höchste Aufmerksamkeit zukommt, steht außer Frage. Aber wenn sich ihm ein Opernhaus widmet, muss doch nachgefragt werden: Keins der beiden Klavierkonzerte? Kein Solorecital? – Nein, eine Oper?!
Ja, tatsächlich, das Musiktheater Wroclaw hat jetzt die Oper „Chopin“ von Giacomo Orefice herausgebracht, die wirklich kaum jemand kennt. Auch der Komponist, immerhin ein Zeitgenosse Puccinis, ist heute weitgehend unbekannt. Dabei schrieb der 1865 in Vicenza geborene Orefice immerhin zehn Opern, ein Ballett und ein Cellokonzert, drei Sinfonien sowie eine Reihe von Liedern und Kammermusik. Er unterrichtete am Mailänder Konservatorium Komposition; sein wohl namhaftester Schüler ist dort eine Zeit lang Nino Rota gewesen.
In höchster Verehrung Chopins widmete Orefice diesem Genie eine vieraktige Oper. Sie wurde 1901 in Mailand uraufgeführt, fand bald darauf nach Warschau, wurde vielfach nachgespielt – und geriet in fast absolute Vergessenheit. Das Teatr Wielky der polnischen Hauptstadt hat sie 1997 erneut ausgegraben, ohne damit sonderlich erfolgreich gewesen zu sein.
Umso waghalsiger und/oder verdienstvoller, wenn die Oper Wroclaw sich nun dieses Werkes erneut annimmt. Die Intendantin Ewa Michnik wollte dem Jubilar – Chopins 200. Geburtstag steht je nach Quellenlage am 22. Februar oder am 1. März an – ein würdiges Denkmal setzen und nahm das Wagnis an; in doppelter Hinsicht, denn die Umsetzung der aus zahlreichen Chopin-Fragmenten zusammengesetzten Partitur übernahm sie gleich selbst. Die Inszenierung legte sie in die Hände des Film- und Theaterregisseurs Laco Adamik. Der hat mit seiner Bühnenbildnerin Barbara Kedzierska und der Kostümbildnerin Magdalena Teslawska die Stationen Chopins in einer eigenartigen Ästhetik dargestellt, wie man sie hierzulande als eher ungewöhnlich empfinden würde. Der Bühnenraum ist in ein frei ausdeutbares Meeresgrün getaucht, Schaumkronen eines bewegten Lebens wären da abzulesen, und wird dann doch von geradezu archaischen Realismen gefüllt, die das Zusammenspiel von Assoziationsfreiheit und dörflich naturalistischer Folklore fragwürdig erscheinen lassen. Die Handlungsklammer bildet Chopins Tod in Paris. Er erinnert sich in einer langwährenden Sterbeszene (die Oper geht nur gut zwei Stunden, „fühlt“ sich aber deutlich länger an) seiner polnischen Herkunft. Da marschiert dann Volkskunst über die Bühne, die nur mit der historisch belegten Sehnsucht Chopins zu seiner Heimat entschuldbar ist. Um die Reflexion einer Legende der Befreiungskämpfe zu belegen, wird eine Horde Soldaten über die Bühne getrieben, da fällt das Verständnis schon schwerer. Auch die mitunter schwerwiegenden Metaphern eines rot geflügelten Engels und einer wunderschönen Sensenfrau (!) wirken vordergründig aufgesetzt.
Peinlich berührt jene Szene, in der Chopin, dessen originale Kompositionen ja während der ganzen Oper in Zitaten aus dem Orchestergraben und nicht selten auch aus den Sängerkehlen dringt, ausgerechnet am schwarzen Flügel auf der Bühne gedoubelt wird. Da wird dann reichlich zehn Minuten lang das zweite b-moll-Scherzo gegeben, die theatralisch behauptete Pariser Salongesellschaft in Rüschen und Roben lauscht andächtig stumm, das reale Auditorium zwingt sich zu größtmöglicher Toleranz. Die Musik dieses Giganten ist eben wirklich nur gut, wenn sie gigantisch gespielt wird.
Eva Michnik gibt ihrem Orchester unfehlbar die Richtung vor, nur im Chor wird manch Einsatz verhaspelt. Dass ein Klavier auch im Graben bespielt wurde, ist der freien Partiturauslegung zu danken, weil sonst viele Phrasen der Originale sehr eins zu eins in Bläser- und Streicherstimmen gelegt worden wären. Diese allzu krasse Direktheit wird so glücklicherweise wieder aufgehoben. Und doch bleibt das Wiedererkennen der Vorlagen in der Instrumentation ein fortwährendes Dilemma. Nicht zuletzt klingt auch das Italienische nur in Ansätzen durch.
Dabei hat Wroclaw zur „Chopin“-Premiere durchaus stimmhafte Namen aufgeboten. Den Titelpart singt der Amerikaner Steven Harrison, der schon wiederholt erfolgreich in der schlesischen Oder-Stadt gastierte. Was er in Orefices von derber Melancholie getränktem Opus ablieferte, war eine Mischung aus im Laufe des Abends gesteigerter Gesangskraft (und -kultur!) mit leidensreichem Gestikulieren. Nur an der Hand seines Freundes Elio ist er durch die schwierigen Sterbeszenen zu bringen, was Mariusz Godlewski als unterwürfigem Retter gelingt.
Stellenweise wirkt „Chopin“ wie eine umgekehrte „Traviata“ oder „Bohème“. Hier leidet der Mann vor sich hin, vom ersten Bild auf dem Sterbebett ist der moribunde Ausgang schon klar. Da hilft weder die Symbolgestalt der Flora, man denkt freilich an George Sand und – in deren Schattenbild – auch an Jane Stirling, noch die leibhaftige Schwester Stella, auch die nur symbolisch. Sie immerhin, so will es ja auch die Überlieferung, bringt eine Handvoll Muttererde aus Masowien mit an die Seine, wo Chopin letzte Ruhestätte auf Père Lachaise längst zur Pilgerstätte aller Klavierliebhaber avanciert ist. Ewa Vesin singt und gestaltet den Flora-Part sehr dramatisch, sehr wirkungsvoll, lasziv und doch stark. Aleksandra Safir gibt sich so schneidig wie sentimental als Schwester Stella. Bewegte Tableaus gelingen mit Chor, Kindern und zahlreichen stummen Partien.
Wie um den Todeshauch permanent zu machen, weht beinahe ständig ein Wind über die Bühne, verteilt Notenblätter, Chopins Manuskripte, lässt Abschiede unentrinnbar werden. Das fügt sich ins Bild, stört aber im Ohr, wenn während der folgenden Gesangsszenen die Papiere unter den Füßen der Darsteller knistern.
Der Mut, dieses in der Musikgeschichte wohl einmalig zitatenreiche Werk auf die Bühne zu bringen, eine konsequent eigenwillige Ästhetik sowie die musikalisch überwiegend sehr anständigen Lösungen rechtfertigen durchaus eine Reise nach Wroclaw. Zumal das dortige Musiktheater ein enorm breitgefächertes und spannungsreiches Repertoire anbietet. Zu den polnischen Matadoren Stanislaw Moniuszko, Karol Szymanowski und Krzysztof Penderecki kommt nun eben auch Frédérik Chopin hinzu – als schillernde, tragische Opernfigur. Das klingende Denkmal eines Nationalhelden.
Termine: 17.3., 13.4., 5. und 6.5.2010