Acht Jahre lang war Michael Sanderling Chefdirigent der Dresdner Philharmonie – Jahre des Abschieds vom alten Kulturpalast, des Unterwegsseins an verschiedenen Spielstätten und des Einzugs in den neuen, vielbeachteten Konzertsaal. Inzwischen hat er seine letzten Dresden-Konzerte in diesem Amt gegeben. Anlass genug für die Frage: Was bleibt? Antworten von Michael Ernst.
Als bleibendes Zeugnis steht die CD-Box mit allen 15 Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch in den Regalen. Daneben die im dramaturgischen Kontext dazu eingespielten neun Sinfonien Ludwig van Beethovens. Zum Dresden-Finale des 52jährigen Dirigenten könnte selbst diese Tonträger-Präsenz (beides bei Sony) Anlass zum Rückblicken sein. Doch im Grunde genommen war Sanderling mit seinem Orchester der Zeit voraus, hat das Beethoven-Jahr 2020, den 250. Geburtstag des Bonner Großmeisters, quasi vorweggenommen und sogar schon den 2025 anstehenden 50. Todestag von Schostakowitsch angemahnt. „Ich wollte unbedingt, dass die Dresdner mal ganz zeitig sind. Und auch auf das 150jährige Bestehen des Orchesters wollten wir einstimmen.“
Das also ist es, was bleibt? Mitnichten. Die Amtszeit von Michael Sanderling als Nachfolger und Vorgänger von Marek Janowski (und dessen erneuter Nachfolger sogar?) ist vor allem von bleibenden Erinnerungen geprägt, die nicht ins CD-Regal gestellt werden können. Musik ist nun mal schnell vergänglich; kaum ertönt, schon ist sie verklungen. Bleibend sind Nachhall, bestenfalls Ergriffenheit und tiefes Glücksgefühl.
Als ihren (vorerst) letzten „sächsischen“ Gipfel haben Michael Sanderling und die Dresdner Philharmonie neuerlich für bleibende Erinnerungen gesorgt und zum gemeinsamen Finale „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss erklingen lassen. Zuvor kam der Dirigent natürlich um einen Blick zurück nicht umhin: „Es ist schwer für mich, aus den vielfältigen Emotionen, die mich in den acht Jahren in Dresden befallen haben, die eine herausragende zu benennen. Zunächst bin ich sehr dankbar, dass dieses Orchester den Mut hatte, 2010 einen für das Berufsleben doch recht jungen Chefdirigenten zu wählen. Das war ein Risiko, dafür kann ich mich im Nachhinein nicht nur bedanken, sondern will dem auch meinen Respekt zollen. Ich habe dann das große Glück gehabt, dass während der Zeit des Auszuges aus dem alten Kulturpalast und der Übergangszeit mit verschiedenen Interimslösungen das Publikum in unvorstellbarer und einzigartiger Weise seinem Orchester gefolgt ist.“
Dass die Spielzeit 2018/19 die letzte von Michael Sanderling als Chefdirigent der Dresdner Philharmonie sein würde, stand bereits lange fest. Die Konsequenz aus einer (inzwischen korrigierten) kommunalen Fehlentscheidung. Es sollte jedoch weder ein Weggang im Argen noch eine Abschiedssaison werden, sondern eine weitere mit spannenden Aufgaben und faszinierenden Konzerten. Nach Abschied klang allenfalls Gustav Mahlers im Februar aufgeführte Sinfonie Nr. 9, das letzte vollendete Werk dieses Komponisten – seinerzeit freilich auch der Aufbruch in eine vollkommen neuartige Musiksprache. Doch vor allem ging es im zurückliegenden Jahr um die geglückte Vollendung jenes CD-Projektes, das Sanderling und dem Orchester so sehr an den Herzen lag.
Während der vergangenen acht Jahre hat Sanderling immer wieder musikalisches Neuland für sich, für das Orchester sowie für das gemeinsame Publikum entdeckt. Denn diese Ära bedeutete auch eine enorme Repertoireerweiterung für den Chefdirigenten. Allein in seinen Abschiedskonzerten setzte er auf vertrautes Terrain: „Eine Bergbesteigung mit wunderbaren Erlebnissen, Rückblicken und Ausblicken, ich habe dafür nicht ohne Bedacht die ‚Alpensinfonie’ von Richard Strauss gewählt. Außerdem das Brahms-Violinkonzert mit Julia Fischer. Das ist nun meine letzte Aktion als Chefdirigent in Dresden gewesen, war aber noch nicht die letzte mit dem Orchester.“ Diesen Abschied hat sich Sanderling für eine Tournee nach Japan und Korea aufgehoben, mit einem umfangreichen Programm im Gepäck: Beethovens Fünfte, die „Unvollendete“ von Schubert und die Neunte von Dvorák sowie Brahms‘ Klavierkonzert und dessen 1. Sinfonie. Von Tokio über Osaka, Fukuoka und Musashino ging es Anfang des Monats bis nach Seoul und Incheon hin zu neuen Gestaden.
Dankbarkeit in allen Bereichen
Neuland im wörtlichen Sinn haben Sanderling und sein Orchester in den gemeinsamen Jahren mehrfach betreten, in fünf Jahren „Philharmonie Unterwegs“ zwischen altem Kulturpalast und neuem Konzertsaal gab es die durchaus berechtigte Sorge, Teile des Publikums zu verlieren. Stattdessen erfuhr die Philharmonie eine enorme Treue, die Michael Sanderling nachhaltig berührt und für die er Dresden ausdrücklich danken möchte. Äußerst emotional denkt er an die Eröffnung des neuen Konzertsaales zurück: „Ein Moment, der uns allen sehr an die Nieren gegangen ist. Nicht, weil die Übergangszeit so schwierig war, sondern weil ein so langgehegter Wunsch für viele Dresdner und insbesondere für das Orchester endlich in Erfüllung gegangen ist. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an den Tag denke, als wir dort zum ersten Mal die Instrumente ausgepackt und den Raum mit Musik erfüllt haben.“ Höchst dankbar spricht der scheidende Dirigent von „wunderbaren Begegnungen mit den Menschen im Orchester und auch hinter dem Orchester, vor allen Dingen aber natürlich auch mit dem Dresdner Publikum.“
Bei alldem klingt nicht ein Hauch von Abschiedsschmerz an – und erst recht gibt es (nach all den Jahren ein Wunder?) keinerlei Spur von Groll. „Nein, ich bin dankbar, dass ich durch meine Position in Dresden wachsen durfte. Das ist für Musiker ein großes Geschenk. Mit diesen Emotionen verlasse ich diese Stadt, was mir nicht leicht fällt.“
Ein Hauch von Abschiedsschmerz
Erstaunlich mutet an, wie schnell der fünfjährige Übergangszeitraum vergessen ist. Das Dresdner Publikum und die musikinteressierten Gäste der Stadt haben sich ebenso wie die Orchestermitglieder und die Gastsolisten rasch an den neuen Konzertsaal gewöhnt. Umso wichtiger ist für Sanderling, dass die Philharmonie das aufreibende Interim ohne qualitative Einbußen überstanden hat. „Ob die Qualität hier und da vielleicht noch erweitert werden konnte, das mögen andere entscheiden“, räumt er bescheiden ein.
Der in Berlin geborene Dirigent begann seine musikalische Laufbahn als Cellist, erhielt mit fünf Jahren ersten Instrumentalunterricht und wurde 1987, nachdem er den 1. Preis beim Internationalen Maria-Canals-Wettbewerb in Barcelona gewann, von Kurt Masur als Solocellist ans Leipziger Gewandhausorchester geholt. Als Dirigent debütierte er Ende 2000 in der Berliner Philharmonie. Nach Chefpositionen bei der Deutschen Streicherphilharmonie, der Kammerakademie Potsdam und eben der Dresdner Philharmonie will Michael Sanderling vorerst keine feste Verpflichtung eingehen. Spätere Überraschung nicht ausgeschlossen. Dass er als Gast nach Dresden zurückkommen wird, steht hingegen schon fest.
Was also bleibt? „Mit der Gegenüberstellung von Beethoven und Schostakowitsch haben wir zwei große Sinfoniker in einen Dialog gesetzt. Den ersten wahren Sinfoniker, der diese Form benutzt, um ihn bewegende gesellschaftlich relevante Themen mittels dieser Form zu beschreiben und zu entwickeln. Und den für meine Begriffe letzten Sinfoniker, dem es gelungen ist, dem Publikum mit der Gattung Sinfonie etwas erzählen zu können.“
Besonders die Kopplung von Beethovens 9. Sinfonie mit „Babi Jar“, der 13. von Schostakowitsch, hält Sanderling für ausnehmend aktuell: „Hier wird eine besondere Botschaft der Humanität vermittelt. Der eine sagt, alle Menschen werden Brüder, der andere setzt ein großes Fragezeichen dahinter. Ich fürchte, dieses Fragezeichen müssen wir auch heute noch setzen.“ Das also soll bleiben: Nachdenken.