Ein Konzertsaal ist an sich schon ein ungewöhnliches Konzept. Denn Mauern dienen sozialgeographisch gedacht der Trennung. Gebaute Räume sind Orte von Schutz, Abgrenzung, Einhegung. Über Jahrhunderte hinweg hat dieses Konzept gut funktioniert. Draußen ächzt die Welt, drinnen herrschen Musik, Kunst, Imagination. Viele Erzählungen wurden um diese Idee herum entwickelt, kulturelle Konventionen, Konsumgewohnheiten, Geschäftsfelder. Die Regeln waren klar. Man verschaffte sich per Eintrittskarte die Berechtigung, ein Teil des Innen zu sein, kontingentiert einschließlich Exklusivitätsgewinn.
Das Elektra Tonquartier: Tool mit Aussicht
Doch die Wahrnehmung verändert sich: Jedes Smartphone überschreitet räumliche Grenzen, Innenräume werden transparent, Kameras durchdringen die Mauern. Auf jedem Sitzplatz gibt es einen Sender, der potentiell die Einzigartigkeit durchbricht. Das kulturelle Innenraumereignis hat das soziokulturelle Merkmal seiner Besonderheit verloren. Man kann darauf auf verschiedene Weise reagieren. Superlative sind eine Möglichkeit: Man setzt auf das großformatige Erleben, auf die Überwältigungsrhetorik von Mega-Events. Konzertstreaming ist eine andere und weniger aufwändige Variante. Veranstalter öffnen selbst ihre Räume und versuchen auf diese Weise, die Angebotsstruktur zu kanalisieren.
Ein weiterer Weg ist die Architektur in Verbindung mit rasant avancierter Technik. Industrial Light & Magic zum Beispiel konstruierte für die Produktionsfirma Lucasfilm die LED-Kuppel „The Volume“, die den Filmraum auflöst und den „Mandalorian“ im Filmsetting an jede Stelle des animierten Universums transportiert. Dolby Atmos und Vorgängerformate wie Auro-3D sind im Heimkino- und High-End-Studio-Umfeld akustische Möglichkeiten, die gebauten Gegebenheiten zu verändern. Ein Saal wie das neu eröffnete Elektra Tonquartier im Bergson Kunstkraftwerk wiederum versucht, die Idee sich auflösender Räume mit der des Konzertsaals zu verbinden.
Und das löst gleich mehrere Probleme. Denn die gängigen Glaubensfragen der Akustiker - „Schuhschachtel“ oder „Weinberg“ - stellen sich nicht. Die Akustikfirma Müller-BBM aus Planegg hat im Elektra Tonquartier 80 zum Teil mächtige Lautsprecher im Saal eingebaut. Die 440 Quadratmeter Grundfläche mit 12 Meter Deckenhöhe und die 478 Sitzplätze können rundum nach Belieben beschallt werden. Raumklang wird damit zur einer Frage des Mixes. Kathedrale? Kein Problem! Mal klingen wie das Konzerthaus Wien, die Royal Albert Hall oder die Oper in Sydney? Warum nicht! Oder einfach wie das vergleichsweise trockene Bergson Origi-nal ohne viel Modifikation?
Roman Sladek, künstlerischer Leiter des Bergsons und außerdem Chef der Jazzrausch Bigband, die wiederum gemeinsam mit der klassischen Bergson Phil’ eines der beiden Residence Ensembles des Kunstkraftwerkes bildet, stellt zur kleinen Einführung vor den Konzerten der Big Bang Eröffnungswoche als Mann mit Posaune einige der Gestaltungsmöglichkeiten vor. Staunende Gesichter im Publikum, man traut seinen Ohren kaum. Die Konzerte vom Party Jazz der Bigband über Jazz Electronics mit Bugge Wesseltoft und Henrik Schwarz und Ethno Songwriter-Pop mit Kardi Voorand bis hin zur barocken Klassik des Balthasar-Neumann-Ensembles und den Bach-Arien von Julian Prégardien machten wiederum über fünf Tage hinweg das Tor stilistisch möglichst weit auf. Das wirklich Neue aber ist das akustische Verschwinden der Wände. Es ist ein bisschen wie damals, als Steve Jobs iPhone und iPad präsentierte. Plötzlich hatten Künstler ein Tool in der Hand, das ihre Kreativität anregte, und keiner wusste, was man alles würde machen können. Das Elektra Tonquartier ist auch so ein Werkzeug, mit dem jetzt gearbeitet werden kann.
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